Nataschas Winter. Susanne Scholl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Scholl
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783945961582
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ist, wird übersiedelt. Großmütter und Kinder aller Altersstufen sowie sämtliche Haustiere – vom Kanarienvogel bis zur Bulldogge – werden mit Sack und Pack auf die Datscha gebracht. Die arbeitenden Familienmitglieder atmen dann meistens auf, wenn sie Sonntagabend den Rückweg in die Stadt antreten. Und beginnen am nächsten Tag schon darüber zu stöhnen, dass sie spätestens am darauf folgenden Freitag wieder in den Kampf aufs Land müssen.

      Bei meiner Freundin Tanja ist das nicht anders.

      Zu den drei Kindern ihrer Schwester, von denen das älteste in diesem Jahr auch noch ein winziges Enkelkind mit auf die Datscha brachte, gesellen sich noch die zwei Töchter Tanjas und ihr Hund, dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, allen zu schmeicheln, wenn er nicht gerade erfolglos Jagd auf Katzen oder Vögel macht.

      In diesem Sommer allerdings war das Leiden der Familie an ihrem ererbten Holzhäuschen mit den stilechten Blattranken und dem Gemüsebeet in der Tiefe des ziemlich wilden Gartens besonders groß.

      An einem Wochenende kam es vollends zur Katastrophe.

      An diesem Tag fiel wieder einmal Moskaus Sommer-Dauerregen. An eine Betreuung der Salatbeete und Erdbeerpflänzchen war nicht zu denken. Die Teller mit dem Mittagessen mussten auf den Knien gehalten werden, weil der einzige große Tisch auf der Veranda steht, in die es aber hineinregnete. Die Kinder langweilten sich gewaltig, jagten gemeinsam den Hund durch die vier Zimmer, sprangen mit nackten Füßen in den Schlammgarten, um dann ihre Spuren auf der Veranda zu vergleichen, und waren auch sonst eine große Freude für ihre Eltern.

      Gerade, als das nachmittägliche Fernsehprogramm für die Kinder begann und die Erwachsenen insgeheim einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstoßen wollten, weil man zu dieser Zeit immer mit ein paar Minuten relativer Ruhe rechnen konnte, verwandelte sich der Moskauer Sommerregen in ein ordentliches Moskauer Sommergewitter. Der Unterschied wäre nicht weiter groß gewesen, wäre nicht daraufhin auch noch der Strom ausgefallen.

      Die Kinder schrien lauthals ihre Enttäuschung heraus und begannen wieder, durch das Haus zu jagen. Das winzige Enkelkind brüllte, weil es Blähungen hatte. Dessen Mutter, der Schwester älteste Tochter, lag blässlichermattet auf dem durchhängenden alten Diwan und hatte nur eine müde Handbewegung für die jagenden Geschwister und Cousinen und das eigene vor Bauchweh brüllende winzige Kindchen übrig. Die frisch gebackene Großmutter trug das schreiende Baby herum und geriet darüber – was häufig vorkommt – in Streit mit ihrer Schwester, meiner Freundin Tanja.

      Gerade, als die beiden Schwestern einander wieder einmal alles an den Kopf warfen, was sie sich von Geburt an gegenseitig angetan hatten, die Ehemänner sich eben mit einer Flasche Wodka und einer vollen Packung Zigaretten auf die nasse Veranda zurückzuziehen begannen, weil sie der Meinung waren, schreiende Babys, jagende Hunde und tobsüchtige Kinder verschiedener Altersstufen seien von ihren Ehefrauen eher zu bewältigen, nahm die Tragödie eine neue Wendung.

      »Du machst das immer! Immer! Man kann mit dir nicht reden, immer bist du gleich …«, war meine Freundin Tanja gerade so richtig in Fahrt gekommen, als sie von leisem Gewimmer direkt neben sich abgelenkt wurde. Sie blickte zur Seite und sah dort ihre jüngere Tochter stehen. Ein wunderhübsches, zartes und unter normalen Umständen lebhaftes, lustiges Kind. Das war jetzt grün im Gesicht und berichtete der Mutter, es habe gerade erbrochen. Auf die Veranda. Es habe sie einfach so überkommen.

      Während sie dies noch der Mutter erzählte, überkam es sie wieder. Und es überkam das arme Kind noch oft an diesem ganz gewöhnlichen Sonntag auf der Datscha. Man machte ihr kalte Kompressen, der Vater kochte ihr Kamillentee, der Onkel – ein Arzt – untersuchte ihren Bauch und befand, der Blinddarm könne es nicht sein.

      Das Kind aber erbrach weiter und weiter, das Baby quengelte weiter vor sich hin, die neue Mutter hatte Kopfschmerzen, und die übrigen Familienmitglieder fühlten sich vernachlässigt.

      Also beschloss meine Freundin Tanja, ihr erbrechendes Kind ins Auto zu packen und nach Moskau zurückzukehren. Zumal es immer noch regnete. Das Gewitter war zwar vorbei, der Strom aber nicht wiedergekommen, und der Regen – der dachte gar nicht ans Aufhören.

      Die Heimreise nach Moskau war denkwürdig und bestand im Wesentlichen aus drei Dingen: strömendem Regen; Aufenthalten, die alle paar Kilometer notwendig wurden, da das Kind immer weiter erbrach; und einem langen Stau noch vor der Stadteinfahrt, da alle Moskauer immer gleichzeitig aus der Stadt hinaus zu ihren Datschen und von diesen zurück in die Stadt zu fahren scheinen.

      Am nächsten Tag kam der Kinderarzt zum erbrechenden Kind, das da schon wieder durchaus guter Dinge war und meinte, es habe etwas Schlechtes gegessen, viel mehr fehle ihm nicht. Nach mehreren Telefonaten mit ihrer Schwester – mit der sich meine Freundin zwar furchtbar streiten, aber ebenso schnell wieder versöhnen kann, so dass kein Streit ihren regelmäßigen Telefongesprächen mehrmals am Tag Abbruch getan hätte – stellte Tanja erleichtert fest, dass wohl auch die junge Mutter das gleiche Schlechte gegessen haben müsse, worauf sie mit Kopfschmerzen, das winzige, auf die Muttermilch angewiesene Baby aber mit Blähungen und ihre, Tanjas, Tochter eben mit Erbrechen reagiert hätten.

      Am Dienstag rief mich Tanja an und erzählte mir von ihrem Wochenende. Ich war natürlich voller Mitleid. Das mir verging, als sie mich am Ende unseres Gesprächs fröhlich aufforderte, sie doch am folgenden Samstag unbedingt auf die Datscha zu begleiten. Nicht nur sie und ihre Familie würden da sein, sondern auch die Schwester mit Kindern und Enkelkind. Zwei befreundete Familien, die zusammen ebenfalls sechs Kinder vorzuweisen hätten, hätten sich auch angesagt. Man werde sicherlich einen wunderbaren Tag verbringen.

      Wir haben die breiten Boulevards, über denen der Himmel einerseits niedrig und andererseits so unendlich erscheint, längst hinter uns gelassen. An uns vorbei zieht die Weite. Russlands Hügel und Seen, hässliche neue Kleinstädte, Brücken und Dämme.

      Adlerauge und die Kartenleserin haben sich in den Schlaf zurückgezogen, alle Versuche, ihnen die überwältigende Freiheit des Blicks über Berge und Wälder schmackhaft zu machen, sind fehlgeschlagen. Sie öffnen ihre Augen zum ersten Mal wieder, als wir von der Straße in einen kleinen Waldweg abbiegen und stehen bleiben.

      Ein paar hundert Kilometer haben wir schon zwischen uns und Moskau gebracht. Ein paar hundert Kilometer, auf denen wir weder ein Rasthaus noch eine Gaststätte gefunden hätten, die zum Haltmachen einladen würden. Weil aber der menschliche Organismus bekanntermaßen auf derlei sowjetisch-russische Gegebenheiten keine Rücksicht nimmt, verhalten wir uns wie trainierte russische Reisende und missbrauchen den Wald für unsere tyrannischen körperlichen Bedürfnisse.

      Es ist ein dichter Mischwald, in dem es immer noch duftet – obwohl, wie wir feststellen müssen, an dieser Stelle schon viele Reisende vor uns Halt gemacht haben. Adlerauge wagt sich als Erster hinter einen Baum, die Kartenleserin folgt ihm etwas zögernd nach. Schließlich begebe auch ich mich ins Dickicht – und bin von uns dreien schließlich die Einzige, die es zuwege bringt, in diesem duftenden Wald in einen unangenehm riechenden, klebrigen, angeblich Glück bringenden Haufen zu treten.

      Trotz aller Zivilisationsschäden finden wir hier viele Pilze. Schließlich hat es in den vergangenen Wochen oft geregnet. Wären wir noch in Moskaus näherer Umgebung, hätten wir hier keinen einzigen Pilz mehr zu Gesicht bekommen. Doch die eiligen Reisenden können, so wie wir, nichts anfangen mit dem russischen Leibgericht in seiner natürlichen Umgebung. Nur ein Witzbold hat einen großen Pilz ausgerissen und mitten in die Sonne an den Rand des sandigen Waldwegs gestellt.

      Eine große Möwe, die sich vom nahe gelegenen Flüsschen hierher verirrt hat, beäugt ihn. Da wir alle müde sind und nur wenig und leise sprechen, beachtet sie uns nicht. Langsam und hüpfend nähert sie sich dem für sie wohl verführerisch aussehenden merkwürdigen Gast am Wegrand. Ganz geheuer ist ihr die Sache aber offenbar nicht. Denn als sie den Pilz endlich erreicht hat, pickt sie kurz gegen dessen hübschen hellbraunen Hut und zieht sich dann ebenso hüpfend gleich wieder zurück.

      Adlerauge und die Kartenleserin, die nicht nur unglaubliche Tierfreunde, sondern auch ihrem Alter entsprechend geradezu rabiate Tierschützer sind, beobachten die Möwe wie