Pläne für den Kampfverlauf sind demzufolge unsinnig, nicht jedoch eine planmäßige, systematische Vorbereitung auf die Begegnung mit der Gewalt. Hier müssen Sie im Gegenteil sehr genau sein. Verschließen Sie nicht die Augen vor Gewaltberichten. Spielen Sie Szenarien im Kopf durch, einmal aus der Sicht des Angreifers und einmal aus der Sicht des Opfers. Wenn Sie sich in der Opferrolle nicht wohl fühlen, was anzunehmen ist, dann überlegen Sie sich Strategien, wie Sie dieser Rolle entkommen oder besser gar nicht erst in eine solche hineingeraten.
In diesem Buch erläutern wir verschiedene Strategien und Taktiken für den Selbstschutz. Wir zeigen, was man tun kann und in einigen Fällen auch tun sollte, doch bleibt es Ihnen überlassen, das für Sie Wichtige und Notwendige herauszufiltern. Eines sagen wir aber nachdrücklich: Jede Situation ist anders, und Erfolgsgarantien kann es nicht geben. Der Kampf ist eine sehr dynamische Angelegenheit mit vielen unbekannten Faktoren.
Die Gewalt wird nicht verschwinden, wenn Sie Ihre Augen davor verschließen. Sie ist Teil dieser Welt und ganz sicher ein Teil von uns selbst. Je besser wir sie verstehen, desto besser können wir mit ihr umgehen.
Mabuni Kenei, ein alter Karatemeister, der ein sehr ursprüngliches Karate vertritt, welches als Selbstverteidigungssystem und nicht als Sport betrieben wird, schrieb das Folgende: »Hinsichtlich der Ausbildung kämpferischer Fähigkeiten gibt es häufig Missverständnisse. In Situationen realen Kampfes gerät man im normalen Alltagsleben relativ selten. Dennoch, die Gewalttätigkeit hat in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen. Selbst in Japan, einer der sichersten und diszipliniertesten Gesellschaften der Welt, kam es in den letzten Jahren zunehmend in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Straßen zu völlig unprovozierten Angriffen oder zur Eskalation von Konflikten. Man sollte sich demzufolge darauf einstellen, dass man selbst in gewaltsame Auseinandersetzungen einbezogen oder zum Kämpfen gezwungen wird, um Familienmitglieder oder Freunde zu schützen. Der beste Weg, mit solchen Situationen fertig zu werden, war schon immer, dem Angriff des Gegners auszuweichen und ihn daraufhin an empfindlichen Stellen zu treffen, um damit Zeit zu gewinnen und weglaufen zu können. An dieser Stelle muss ich einräumen, dass Meister des Karate, wie ich selbst einer bin, sich Tag für Tag in einem Bujutsu-Karate schulen, das die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Und Kampftechniken, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreiten sind, geradeheraus gesagt, Techniken zum Töten von Menschen. Aber man möge dabei bedenken, dass man, wenn man solche Techniken übt, grundsätzlich nichts anderes tut als Soldaten, die sich Tötungstechniken zur Verteidigung ihres Vaterlandes, des Landes ihrer Vorfahren, aneignen. Die Techniken zur ‚minimalen’ Selbstverteidigung, also jene Techniken, die nicht den Tod des Gegners bezwecken, wurden demzufolge aus Techniken zum Töten von Menschen entwickelt.«2 Und an anderer Stelle schrieb er: »Meister Miyahira Masahide, der als Meister des Okinawa-te anerkannt war, soll sich einmal darüber beklagt haben, dass man im Karate trotz langjährigen Trainings nicht zum realen Kampf komme: ‚Ich verstehe nicht, wozu man eigentlich Karate lernt. Das ist doch Vergeudung.’ Wahrscheinlich hatte er selbst gar nicht wahrgenommen, wie sich sein Charakter in der langen Zeit des Studiums entwickelt hatte. Das Ergebnis einer solchen Entwicklung ist stets eine Persönlichkeit, die das Karate gar nicht mehr als Mittel des Kampfes braucht.«3
Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, doch ein Mensch, der in dem Sinne trainiert, wie Mabuni es beschreibt – und wie wir es Ihnen in diesem Buch, auch wenn es darin nicht um Karate geht, nahelegen –, wird weniger wahrscheinlich je mit realer Gewalt konfrontiert werden, als ein Mensch, der sich nie ernsthaft mit dem Thema Gewalt befasst hat. Wir werden im Buch noch ausführlich auf die Frage der Opferrolle zu sprechen kommen. An dieser Stelle nur soviel: Jemand, der sich selbst gewohnheitsmäßig als (potentielles) Opfer betrachtet, hat eine bestimmte Ausstrahlung, die Gewalttäter deutlich wahrnehmen können. Schläger suchen bevorzugt nach solchen Menschen. Jemand, der sich nicht als potentielles Opfer empfindet, der selbstsicher auftritt, ohne zu provozieren, wird seltener überfallen werden. Genau das besagt auch das Leitmotiv dieses Buches, das wir an den Anfang dieses Kapitels gestellt haben.
Fallberichte 1 – Ort
Übergriffe können überall stattfinden. Man ist nirgends vollkommen sicher. Daher gibt es keinen Ort, an dem Wachsamkeit nicht angeraten wäre.
2007 – In Aachen stieß ein 33-jähriger Mann eine Frau vor einen heranfahrenden Zug. Diese wurde überrollt und getötet.
2009 – In Wuhan, China, wurde ein Mann auf der Toilette erstochen. Der Täter wartete den Moment ab, in dem sein Opfer wegen der heruntergelassenen Hose nicht fliehen konnte, und stach dann zu.
2009 – In Lengerich, Emsland, griff ein 32-jähriger Mann seine Frau auf der Toilette an. Er brach ihr an der Schüssel die Halswirbel und ertränkte sie dann im Becken.
2010 – Ohne Vorwarnung wurde eine Frau in Frankfurt am Main auf dem U-Bahnsteig von mehreren jungen Männern angegriffen. Sie schlugen erst auf die Frau ein und stießen die 20-jährige dann auf die Gleise. Die Frau überlebte.
2011 – In Sarstedt bei Hannover wurde am Neujahrstag ein 35-jähriger Mann in seinem Auto erschossen. – Die Täter warteten an einer Ampel, bis diese auf Rot schaltete. Dann näherten sie sich dem Wagen und schossen mehrfach durchs Seitenfenster.
2011 – Wegen eines Streits um die Reihenfolge in der Warteschlange vor dem Gemeinschaftsklo erschoss im November in Moskau ein Mann den Freund seines Nachbarn.
Der Stellenwert der Gewalt in der Gesellschaft
Es ist interessant zu beobachten, wie sich in der Geschichte der Stellenwert der Gewalt geändert hat, ohne dass sich indes etwas an der allgemeinen Situation geändert hätte. Das fängt im Grunde schon vor den ersten Aufzeichnungen in der Menschheitsgeschichte an. Immer war Gewalt vorhanden und wurde als Mittel zur Problemlösung akzeptiert.
Im indischen Arthashastra, das vor etwa 2300 Jahren geschrieben wurde, geht man soweit, Empfehlungen und Methoden für das Töten der Mitbewerber um die Macht auszusprechen.1 Das betraf auch die eigenen Geschwister. Das hört sich für uns sehr grausam an, gewiss. König Ashoka (ca. 304 - 232 v. Chr.), der sich mittels dieser Methode den Thron des Reiches verschaffte, bereute später seine Taten und wurde einer der friedfertigsten Herrscher der Weltgeschichte. Jedoch versäumte er es nicht, überall mittels Grenzmarken ebenso klar wie drohend darauf hinzuweisen, wo sein Einflussbereich begann.
Das Arthashastra hat viel Ähnlichkeit mit dem chinesischen strategischen Denken einiger Philosophen und Feldherren wie Sūnzǐ (ca. 545 - 470 v. Chr.) oder Cao Cao (ca. 155 - 220), der formulierte: »Betrüge lieber die Welt und die Menschen, als dass die Menschen und die Welt dich betrügen.«
Auch die berühmten 36 Strategeme (siehe Fußnote 45 auf Seite 52) lassen mitunter Menschenfreundlichkeit vermissen. Sie sind pragmatisch für die Lösung spezieller Probleme ausgelegt. Wenn ein Mensch das Problem ist, wird zur Beseitigung desselben geraten. Jedes Mittel, wenn es denn hilfreich ist, wird empfohlen. Ein alter Spruch aus Europa belegt, wie sehr ein derartiges Denken in der Vergangenheit verbreitet war. Er lautet: »Ist der Mensch die Krankheit, ist der Tod die Medizin.«
Der Athener Kleon2 sagte treffend: »Es ist unmöglich – und wer es glaubt, ist sehr einfältig –, den Menschen von den Handlungen, zu denen er sich nun einmal von der Natur getrieben fühlt, durch den Druck der Gesetze oder durch andere Schreckmittel abzubringen.«
Die griechische Schwerathletik und die römische Gladiatur waren alles andere als zimperlich. Der Tod wurde in der Antike immer in Kauf genommen. Bei der Gladiatur war er Teil