Xióng Dàomíng hatte eine große Liege, unter der er allerlei Dinge aufbewahrte und auf der er immer saß, wenn seine Schüler bei ihm trainierten. Nur er allein fand sich dort zurecht. Neben Geschenken von Schülern wie Schnapsflaschen oder Zigaretten befand sich dort auch ein Koffer, in dem er all seine Materialien über die Kampfkunst aufbewahrte. Unter anderem die Kalligraphien über das Yàn Chí Gōng. Erst kurz vor seinem Tod gab Meister Xióng das Material an meinen Lehrer Li Zhènghuá weiter, und ich erhielt die Unterlagen von diesem im Jahr 2012.
In dem Text werden wichtige Prinzipien des Daoismus und der chinesischen Medizin erklärt und es wird erläutert, wie die Bewegungen auf den Körper wirken. Der Inhalt dieses Textes geht auf ein nahezu 2 000-jähriges Wissen zurück und ist sowohl eng mit der Philosophie des Daoismus als auch mit dem Wirken von Dámó7 verbunden.
Die Vorworttafeln 1 bis 16 erklären Grundlegendes zum geistigen Hintergrund und zur Praxis des Yàn Chí Gōng. Yàn Chí Gōng war, wie Xióng Dàomíng schrieb, ursprünglich eine daoistische Trainingsmethode. Diese wurde bereits von Dámó (達摩) als inneres Haupt-Gōng ins Shàolín-Training aufgenommen. Es durfte nur an einen auserwählten Personenkreis innerhalb des Shàolín weitergegeben werden.
Die starre Trennung zwischen Daoismus und Buddhismus, wie sie heute besteht, war anfangs nicht vorhanden. Ein reger Austausch von Wissen zwischen beiden war früher etwas ganz Normales. Viele gute Trainingsmethoden und auch Techniken wurden vom Buddhismus weitergegeben und verbreitet, stammten jedoch ursprünglich aus dem Daoismus. Denn der alte Daoismus verbreitete sich und seine Lehre nicht gern. Dies gilt auch für das Yàn Chí Gōng.
Die Tafeln 17 bis 19 beschreiben die drei Teile des Yàn Chí Gōng mit jeweils sieben Übungen pro Teil. Das heißt, der gesamte Komplex besteht aus 21 Übungen. Mein Lehrer, Meister Li Zhènghuá, der Erbe Xióng Dàomíngs, hat mir gestattet, das Yàn Chí Gōng der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mit Ausnahme der letzten drei Übungen, die traditionell nicht öffentlich gelehrt werden dürfen.
Die Tafeln sind generell als Hinweise zur Unterstützung der praktischen Anwendung bestimmt, für Personen, die die Übungen bereits beherrschen. Es war also unbedingt notwendig, den Text detailliert zu erläutern, damit er für den Leser einen praktischen Nutzen ergeben kann. Auf Grundlage dieser Tafeln und der Erläuterungen kann die Linie dieser uralten Trainingsmethode fortgeführt und für eine breite Öffentlichkeit nutzbar gemacht werden. Ein gutes Trainingssystem muss logisch aufgebaut sein und sich wissenschaftlich begründen lassen. – Jiǎng dàolǐ (講道理) bedeutet, den Grund für etwas erklären zu können. Genau das werden wir in diesem Buch tun.
Maik Albrecht, Wuhan, 2014
Zum Begriff gōng
In der westlichen Welt hat sich heute für chinesische Gesundheitsübungen der Begriff qìgōng eingebürgert. Im Folgenden sollen die Begriffe gōng und qìgōng näher erläutert werden, da dies für das Verständnis dessen, worum es sich bei Yàn Chí Gōng handelt, notwendig ist.
Gōng (功) wird allgemein mit Arbeit, Leistung oder Verdienst übersetzt. Der chinesische Begriff setzt sich zusammen aus den Zeichen gōng (工) für Arbeit und li (力) für Kraft. In Verbindung mit anderen Zeichen gibt es noch folgende Bedeutungen: Yònggōng (用功) steht für »arbeitsam, fleißig«, gōngkè (功課) für »Hausaufgabe«, gōngxiào (功效) für »Wirksamkeit« und chénggōngde (成功的) für »erfolgreich«. Im Westen wurde der Begriff gōng im Zusammenhang mit einem Begriff, der heute oft als Synonym für chinesische Kampfkunst verwendet wird, bekannt: gōngfu (功夫) beziehungsweise Kung Fu. Tatsächlich war gōngfu ursprünglich nur eine Bezeichnung für den Zeitaufwand, welcher nötig ist, um eine bestimmte Sache zu meistern. Egal, worum es sich hierbei handelt. Der Begriff wird daher je nach Zusammenhang auch mit Fähigkeit, Können, Mühe, Anstrengung oder Zeitaufwand passend übersetzt. Im Folgenden geht es um die Verwendung des Begriffes gōng im Sinne von körperlicher Ertüchtigung beziehungsweise der Steigerung der Vitalität.
Im Zusammenhang mit den meisten ursprünglichen Übungen taucht in China der Begriff qìgōng (氣功) nicht auf. Man bemühte die geheimnisvolle Kraft des qì nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Es wird oft vergessen, dass die Chinesen ein sehr pragmatisches Volk sind. Diesem Pragmatismus, der praktischen Anwendung des Wissens, wird buchstäblich alles untergeordnet, auch das Himmlische und die Spiritualität. Chinesen pflegen, ganz im Jetzt zu leben. Sie sind selten religiös. Sie haben für gewöhnlich keinen Drang zu missionarischer Verbreitung ihrer Anschauungen. Sie sind vorrangig interessiert an praktischen, realen, sichtbaren Ergebnissen. Wie diese zustande kommen, mit welcher Philosophie, welcher Religion oder welchem Glauben, spielt dabei keine Rolle.
Das qì der Körperfabrik
Viele Leute glauben nicht an das qì (氣), weil sie es für etwas »Übernatürliches« halten. Es ist jedoch keine Frage des Glaubens, sondern eine Angelegenheit nüchterner Fakten. Qì bedeutet Lebensenergie, und dieser Begriff beinhaltet all die ständig fließenden Prozesse, die uns am Leben und in Bewegung halten. Wenn dieser Fluss unterbrochen wird, dann wird man krank. Damit dies nicht passiert, muss man seinen Körper durch korrektes Training gesunderhalten. Bei den Gōng-Übungen werden genau diese Prozesse gefördert und gestärkt. Je besser die Übungen, desto gesünder der Mensch. Selbstverständlich gibt es auch einen geistigen Aspekt. So können auch untrainierte, unkriegerische Menschen in extremen Situationen, wie zum Beispiel in Lebensgefahr, mitunter erstaunliche Kräfte freisetzen, die sich der bewussten Steuerung vollkommen entziehen.
Man kann die Funktion des Körpers sehr gut mit den Abläufen in einer Fabrik vergleichen:
Erstens: Will man in einer Fabrik etwas herstellen, werden zunächst gute Rohstoffe benötigt. – Dies entspricht der Nahrungs- und Sauerstoffaufnahme.
Zweitens: Diese Rohstoffe müssen innerhalb der Fabrik gut verarbeitet und effektiv transportiert werden, und die guten müssen von den schlechten Bestandteilen getrennt werden. – Dies entspricht dem Blutkreislauf, der Nährstoffverarbeitung und der Verdauung.
Drittens: Zuletzt muss ein gutes Produkt aus der Fabrik kommen, und der Abfall muss entsorgt werden. – Das Produkt entspricht einem gesunden, starken Körper. Die Abfallentsorgung entspricht den Ausscheidungen sowie der Ausatmung, die den verbrauchten Sauerstoff in Form von Kohlendioxid wieder abgibt.
Gōng-Übungen spielen in der Körperfabrik die Rolle eines effektiven Managements, das dafür sorgt, dass alle Vorgänge reibungslos und auf optimale Weise ablaufen. Bauen Sie sich Ihre starke und gut funktionierende Körperfabrik selbst auf!
Die alten Daoisten, Mediziner und Kampfkunstmeister sowie die Shàolín-Mönche waren Menschen, die die Natur in all ihren Erscheinungsformen einschließlich der Anatomie, beziehungsweise das Universum insgesamt genauestens beobachteten und tiefgründig erforschten. Sie kamen schon sehr früh zu dem Schluss, dass alles gemäß denselben Grundlagen funktioniert. Auf dieser Basis wurden die chinesische Medizin, die Kampfkünste und die Gōng-Übungen entwickelt. Somit ist diese Analogie zwischen Körper und Fabrik durchaus im Sinne dieser frühen Forscher.
Der Ursprung der gōng
Die ersten gōng sind bereits viele Jahrhunderte alt. In der Vergangenheit wurde der Begriff gōng hierfür allerdings oft gar nicht verwendet. Die alten Bezeichnungen sind manchmal sehr blumig, manchmal