Fast wäre er an einen Felsvorsprung gestoßen, der in der Höhe seines Kopfes aus der Wand herausragte. Das musste der Stein sein, von dem der Großvater geschrieben hatte, dass der Schatz direkt darunter vergraben war. Olaf fing an zu graben. Es war eine mühselige Arbeit, denn er hatte nur eine kleine Schaufel mitgebracht, mit der man normalerweise Blumen in einem Balkonkasten umsetzte. Aber er kam voran, es war kein felsiger Untergrund, wie man hätte vermuten können, sondern nur Erde. Wenn es die richtige Stelle war, hatte sich der Boden über die Jahre zwar verfestigt, er wehrte sich aber nicht gegen die Schaufel. Nach einer Weile hatte Olaf fast einen halben Meter tief gegraben. Er fand vermoderte Holzstücke, die sich mit Erde vermischt hatten. Das ermunterte ihn weiterzumachen. Er warf die Holzreste auf den Haufen, den er neben seinem rechten Knie aufgetürmt hatte. Das Holz schien der Rest einer Kiste zu sein. Die Kiste, in der vielleicht der Schatz transportiert worden war. Das hoffte er jedenfalls. Er vergaß alles um sich herum, er war sicher, kurz vor dem Ziel zu sein. Er grub und grub, war entschlossen, so lange weiter zu machen, bis er den Schatz finden würde, denn seine Zweifel, ob es ihn tatsächlich gab, hatten sich in Luft aufgelöst.
Die Schaufel stieß auf einen harten Gegenstand. Er griff mit der Hand in den Boden. Da war etwas. Ein Stein? Nein, es fühlte sich an wie Metall. Er hob es hoch. Es war tatsächlich ein Gegenstand aus Metall. Er wischte ihn ab und leuchtete ihn mit seiner Taschenlampe an. Es war ein Schmuckstück. Es war golden … ja, es war aus Gold. Woraus sonst sollte es sein? Er grub weiter. Er fand mehr Holzreste und immer wieder Schmuckstücke. Er grub und grub. Er geriet in einen Rausch und schrie: »Halleluja!« Und noch einmal: »Halleluja! Ich bin reich!« Er grub tiefer und tiefer, weitere Schmuckstücke kamen an das Licht der Taschenlampe. Er legte sie neben sich. Er nahm nicht mehr wahr, was um oder hinter ihm geschah. Der Großvater hatte recht. Alle Mühe hatte sich gelohnt. Er wusste, dass er für den Rest seines Lebens unendlich reich sein würde.
Wenige Atemzüge später war er tot.
Er war eine halbe Stunde bergauf gelaufen. Als er auf dem Hügel ankam, war er erschöpft und musste sich ausruhen. Er setzte sich auf eine Bank, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Als er die Augen wieder öffnete, wusste er nicht, ob er nur ein paar Minuten oder eine Stunde geschlafen hatte. Um ihn war ein dichter Wald, in dem die Sonne kaum den Boden berührte. Hinter ihm zwitscherten Vögel. Er ging einige Schritte und stand vor einer Ackerfläche, die sich grün über sanfte Hügel erstreckte. Zwei Männer joggten auf einem Weg zwischen den Feldern. Sie kamen an ihm vorbei und er hörte, wie sie schwer atmeten, sah, dass sie trotzdem versuchten, ihm zuzulächeln. Er grüßte zurück. Eine Reiterin kam ihm entgegen, am Sattel des Pferdes war eine Leine befestigt, an deren Ende ein Hund hing, der das Tempo des Pferdes mitgehen musste. Die Frau hat es gut, dachte Marder, sie hat einen, der sie trägt, und einen, der sie beschützt.
Zwei Bauernhöfe lagen in einiger Entfernung zwischen den Feldern, flache Gebäude, von Bäumen halb verdeckt. Einer war eine Schweinefarm, man roch es bis hier her, der andere war ein Reiterhof, bei dem weder Bewegungen noch Geräusche wahrzunehmen waren. Ein friedliches Bild, wäre nicht aus dem Schweinestall ein angstvolles, vielleicht auch nur aufgeregtes Quieken zu hören. Das störte die Idylle. Kommissar Marder hoffte, dass dort nichts Grausames geschah. Die Szene war so, wie er sie aus seinem früheren Leben auf dem Land im Norden kannte. Sie hatte wenig, eigentlich nichts, mit dem Rheintal gemeinsam, das nur einen Spaziergang entfernt lag Es gefiel ihm hier, er hatte fast das Gefühl, als wäre er wieder zuhause, in Niedersachsen.
Er ging zurück in den Wald, schlenderte über eine Lichtung, einen leicht abfallenden Hang hinab. Da war er, der Rhein. Tief unter ihm floss er Köln und dann dem Ruhrgebiet entgegen, danach in die Nordsee, wenigstens das hatte er mit der Elbe gemeinsam. Am Ufer auf der anderen Seite befanden sich bewaldete Höhenzüge, an manchen Stellen schroffe Felsen.
Eine Bank forderte ihn zum Sitzen auf. Direkt zu seinen Füßen lag das übersichtliche Häusermeer von Remagen, auf der anderen Seite des Flusses sah er die Stadt Erpel, rechts davon die Erpeler Ley, ein Plateau, auf dem sich ein beliebter Aussichtspunkt befand. Die dem Fluss zugewandte Seite des Berges war steil und abweisend. An der Erpeler Ley war von der Römerzeit bis ins zwanzigste Jahrhunderts Basalt abgebaut worden. Die Rinnen im Basaltgestein, die aus der Ferne wie Säulen aussehen, waren an der steilen Felswand deutlich zu erkennen. Auf halber Höhe klaffte ein großes Loch in der Wand. Als Marder es zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er vermutet, dass es eine Plattform war, auf der man Kanonen aufgestellt hatte, um die Brücke zwischen Remagen und Erpel im Krieg gegen die heranrückenden Feinde aus dem Westen zu verteidigen. Inzwischen wusste er es besser: Dieses Loch war das Ende eines Tunnels, der durch den Berg getrieben worden war. Von hier hatte man den Basalt, den man an der anderen Seite des Berges abgebaut hatte, einfach in das Tal gekippt, um ihn auf Kähne zu verladen.
Am Fuß des Hügels blickten zwei massive schwarze Türme auf den Fluss. Das waren die rechtsrheinischen Brückenköpfe der ehemaligen Ludendorff-Brücke, von der Marder wusste, dass sie als Die Brücke von Remagen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle gespielt hatte. Er hatte vor etlichen Jahren, als er gerade bei der Polizei angefangen hatte, den Film mit dem gleichen Titel im Kino gesehen. Er war in Amerika mit bekannten Filmstars produziert worden und hatte ihn damals mehr gepackt als die meisten Filme dieser Zeit. Er konnte sich noch an viele Details erinnern. Der Film handelte von der Überquerung des Rheins durch amerikanische Truppen und den vergeblichen Versuchen der deutschen Wehrmacht, sie daran zu hindern.
Von seiner Sitzbank aus wirkte der Kirchturm der kleinen Stadt Erpel nicht glorreich göttlich, sondern eher malerisch verschlafen. Die Häuser an den Hängen über dem Ort glänzten in der Abendsonne, ein wunderbar in sich ruhendes Bild. Hundert Prozent Rhein-Romantik. In zwei Stunden würde die Sonne untergegangen sein und die Hügel auf der anderen Seite des Stromes würden sich in eine dunkle Wand mit tausend Lichtpunkten verwandelt haben. Großartig und mysteriös.
Im Tal unter ihm pulsierte das Leben. Hier oben war er nicht Teil davon, sich jedoch der Hektik an beiden Seiten des Stroms bewusst. Bundesstraßen an den Ufern, Bahngleise eingeklemmt zwischen Wasser und Hügel. Schnellzüge, Bahnen des Nahverkehrs und Frachtzüge drängelten sich hier Tag und Nacht und belästigten Bewohner des Tales mit Lärm. Auf dem Fluss Schiffe, die unermüdlich Güter brachten und holten.
Er blieb einige Minuten auf der Bank sitzen, dann ging er ins Tal hinab, vorbei an stattlichen Häusern mit gepflegten Gärten. Hier wohnten die besser gestellten Leute in der Stadt. Menschen, deren Familien vermutlich ihren Wohlstand über Generationen weitergereicht haben. An der Sinziger Straße angekommen, die gleichzeitig die B9 war, nahm er allen Mut zusammen und überquerte die Fahrbahn in einer Lücke der endlosen Autokarawane, der nächste Fußgängerübergang war dreihundert Meter entfernt, diesen Umweg wollte er sich ersparen. Er musste sich beeilen, um nicht unter die Räder der Autos zu kommen, von denen sich kaum eins an die zulässige Höchstgeschwindigkeit hielt.
Am Rheinufer suchte er sich einen Platz vor einem Lokal an der Promenade, wo Besucher die Abendsonne genossen. Einheimische und Touristen. Wer von ihnen in der Mehrheit war, traute er sich nicht zu entscheiden. An einem Tisch vor einer Eisdiele sah er Benjamin Hofrichter, seinen Assistenten. Er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, und tat, als bemerke er ihn nicht. Er bestellte ein Alsterwasser und musste wieder einmal feststellen, dass in diesem Teil Deutschlands ein Alsterwasser nicht dasselbe wie in Niedersachsen war. Er hätte einen Radler bestellen sollen. Er nahm sich vor, sich das nun und endgültig zu merken. Er beobachtete die Möwen, die dicht über der Wasseroberfläche dahinsegelten. Am Rand des Stroms kämpfte eine Gruppe Enten gegen die Strömung. Er fragte sich, wo diese Tiere Plätze für ihre Nester finden, ohne dass sie von der Strömung oder von dem wechselnden Wasserstand des Flusses weggeschwemmt werden.
Ein Musiker mit seinem Akkordeon ging zwischen den Tischen und Stühlen auf und ab, spielte Wiener Kaffeemusik und bat mit traurigen Augen um milde Gaben. Manche Besucher gaben ihm etwas Kleingeld, die meisten ignorierten ihn, sie fühlten sich mehr belästigt als unterhalten. Radfahrer in Freizeitkleidung, davon einige in aufwendig bunten Rennoutfits, fuhren am Ufer entlang. Eigentlich