Die Merbaums nannten ihre kleine Tochter Selma. »Selma Merbaum« trug der Angestellte der jüdischen Gemeinde unter der laufenden Nummer 87 auf Blatt 330 des jüdischen Geburtsregisters der Stadt Czernowitz ein.3
Geburtsregistereintrag: Selma
Mit Schwung und Elan setzte er die Anfangsbuchstaben. Merbaum hießen auch Selmas Eltern und dokumentierten mit dem gemeinsamen Namen obendrein, dass ihre Trauung nicht nur nach jüdischem Ritual vollzogen worden war. Selma war »legitimă«, eine eheliche Tochter. Und Selma war rumänische Staatsbürgerin. Das war nicht selbstverständlich.
Czernowitz war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Hauptstadt der Bukowina4, des östlichsten Kronlandes der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie gewesen. Die Bukowina war 1775 nach Ende des Russisch-Türkischen Krieges in den Besitz Österreichs übergegangen.
Mit dem Ende der k. u. k. Monarchie war diese Region mit seiner wechselvollen politischen Geschichte zum Spielball der Machtpolitik geworden. Russen, Ukrainer und Rumänen stritten um die Vormachtstellung. Rumänien setzte sich militärisch durch. Im Vertrag von St. Germain 1919 und endgültig 1920 wurde Rumäniens eigenmächtige erfolgreiche Besetzung der Bukowina legitimiert – Czernowitz gehörte nun zum Königreich Großrumänien. Wer als rumänischer Staatsbürger gelten durfte, hatte König Ferdinand I., ein Hohenzollernspross, in der neuen rumänischen Verfassung vom 28. März 1923 festgelegt: nur noch derjenige, der schon vor dem 18. November 1908 seinen Wohnsitz in der Bukowina hatte oder »heimatberechtigt« in Rumänien war. Meldegesetze hatte es nicht gegeben, viele hatten deshalb auf eine ordentliche Registrierung verzichtet. Mit einem Federstrich waren sie staatenlos geworden. Zweifelte der Beamte also die Rechtmäßigkeit der Angaben an, so dokumentierte seine dienliche Schrift in den Gemeindebüchern gewissenhaft, dass der Antragssteller »pretins cetatean romăn« nur angibt, rumänischer Staatsbürger zu sein.5
Selma war Jüdin. Jüdin ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren worden ist. Selmas Großeltern waren jüdisch-orthodox. Großvater Israel Schrager war obendrein Kantor in der alten orthodoxen Synagoge der jüdischen Gemeinde, der »Alten Shil«. So lag es nahe, dass auch die junge Familie Merbaum die jüdische Religion in ihrer Familie praktizierte.
Das war in Czernowitz nicht ungewöhnlich – zumindest eine »Grundausstattung« der jüdischen Religion hielten selbst assimilierte jüdische Familien parat: eine »Bibel, ein Gebetbuch, Schriften auf Hebräisch und Jiddisch, die Menora, den jüdischen Kerzenleuchter, und einen ziselierten Kidduschkelch, über dem der Segensspruch gesprochen wurde, der den Sabbat einleitete«6.
So steht er da: so blitzend und so schlank,
wie eine nackte Jungfrau die dem Meer entstiegen
und seine Lichter tanzen, drehen, wiegen
so hell wie Tausendschlittenglöckleinklang. 7
Der sechzehnjährigen Selma wird der Kidduschbecher ihrer Großmutter ein vertrauter Anblick werden und in einem ihrer Gedichte seinen Platz finden.
Am 9. Februar 1924, am ersten Sabbat nach der Geburt, verkündete Max Merbaum in der »casa de rugaciume particulara«, im »Shtieberl« eines privaten Gebetshauses, den Versammelten den Namen seiner Tochter. Es ist anzunehmen, dass es dasselbe »Shtieberl« war, in dem Selmas Eltern geheiratet hatten.
In diesem Jahr kam der Familienclan von Friedas Verwandtschaft oft in privaten Gebetshäusern zu Namensfesten zusammen – die zahlreichen Hochzeiten des vorangegangenen Jahres hatten Früchte getragen. Auch Edit Rones8, Selmas Cousine zweiten Grades, wurde 1924 geboren. Selma und Edit werden zusammen aufwachsen, sich bei gegenseitigen Familienbesuchen immer wieder begegnen. Achtzehn Jahre später sollten die Schicksale der beiden Familien unheilvoll verknüpft werden.
In Selmas Geburtsjahr setzte die rumänische Regierung der Verklärung der k. u. k. Doppelmonarchie endgültig ein Ende. Hatte sie bis dahin Deutsch noch als Landessprache anerkannt, so wurde nun Rumänisch in Ämtern und Schulen als Pflichtsprache durchgepeitscht. Durchaus in wörtlichem Sinne – denn oft genug setzten staatliche Kontrolleure dazu die Reitpeitsche ein. Sämtliche Straßennamen änderten sich 1924. Aus der Rapfgasse, in der Familie Merbaum anfangs wohnte, wurde »Strada Rapf« und kurz darauf »Strada Dr. Gheorghe Popovici«. Einzig die Goethegasse hat erstaunlicherweise jedem Namenswandel und allen Turbulenzen der Czernowitzer Geschichte getrotzt. Bis heute. Allen Umbenennungen aber widersetzte sich die jüdische Bevölkerung von Czernowitz und hielt an den deutschen Bezeichnungen fest. Bis heute.
Unsichere Zeiten sollten auf die Merbaums zukommen. Wirtschaftlich und auch privat. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.
Frieda Schrager und Max Merbaum waren sich nicht innerhalb des Netzwerks jüdischer Kaufmannsfamilien begegnet. Es war eher eine Zufallsbegegnung gewesen. Vielleicht sogar eine echte Liebesheirat?
Frieda Schrager wohnte damals mit ihren Eltern und einem ihrer Brüder in der Rapfgasse 6.
Im Souterrain des Hauses hatte sich die junge Frau ei- nen kleinen Kram- laden eingerichtet, eine sogenannte Greißlerei. Genau wie ihre Cousine Fritzi, die zusam- men mit ihrer Mut- ter solch einen klei- nen Laden führte.
Das war in orthodoxen jüdischen Familien durchaus üblich: Die Frau schaffte die materielle Grundlage für das Leben und hielt dem Mann den Rücken für sein Thora-Studium frei. Gelehrsamkeit war eine hochgeachtete Tugend.
Rapfgasse 6
Viel anzubieten hatte Frieda in ihrer Greißlerei freilich nicht. Kleine Dinge nur, wie sie Hausfrauen gern einmal schnell zur Hand haben: Nadeln, Zwirn, kleine Utensilien für den Schreibbedarf. Die Hälfte des tiefliegenden Fensters im Untergeschoss genügte ihr deshalb als Auslage.
Das kam den beiden Brüdern Max und Josef Merbaum gelegen, die 1921 eines Tages vor Friedas Laden standen.
Die beiden stammten aus Văşcăuţi, dreißig Kilometer westlich von Czernowitz. Waschkautz hatte das Städtchen zu Habsburger Zeiten geheißen, als Max und Josef dort zur Welt gekommen waren. Max, der Ältere, am 10. Mai 1892. Möglicherweise aber auch erst am 13. März 1893. Beide Daten finden sich in offiziellen Urkunden. Auf alle Fälle drei Jahre früher als sein Bruder Josef. Der k. u. k. Beamte mag die ungenauen Angaben der Mutter nicht übelgenommen haben, als er die Urkunden später übertragen musste. Die einfache Frau wird es nicht besser gewusst haben. Konnte sie doch nicht einmal ihr eigenes Geburtsdatum genau benennen. Nur, dass sie 1870 in Slobozia-Banila als Tochter des Chaim Meier Abisch und seiner Frau Gitel Zloczowez auf die Welt gekommen war, wusste sie mit Sicherheit zu sagen. Aber schon nicht mehr, wann aus ihrem Namen »Edel« dann »Eidel« geworden war. Chaim Meier – die Namen ihres eigenen Vaters wird Eidel Abisch an ihren unehelich geborenen ersten Sohn weitergeben. Das machte man so in Galizien und der Bukowina. Ein persönlicher Rufname kam später dazu. Chaim Meier wurde Max gerufen.
Galizien mit der Bukowina – Quellgebiet der Flüsse Pruth und Sereth –, im Süden des heutigen Polen und der westlichen Ukraine gelegen, hatte schon im 18. Jahrhundert Begehrlichkeiten bei den Großmächten Preußen, Österreich und Russland geweckt. 1772 war Galizien bei der ersten Teilung Polens Österreich zugesprochen worden. »Ich muß bekennen, daß ich nicht weiß, wie wir uns entwirren werden, aber schwerlich auf eine ehrliche Weise und das betrübt mich unendlich viel.«9 Kaiserin Maria Theresia schien anfangs Skrupel gehegt zu haben. Doch ohne Hemmungen schalteten die drei Großmächte 1779 und 1795 bei zwei weiteren Teilungen Polen endgültig aus. 1848 fiel mit der Aufhebung der Leibeigenschaft in Galizien noch eine weitere Bastion: Die Provinz Bukowina, das Buchenland, 1774 von Österreich besetzt, 1786 aber Galizien zugeschlagen, wurde abgetrennt und erhielt eine autonome Verwaltung. 1867 wurde die Bukowina östlichstes Kronland der k. u. k. Monarchie.
Schon die erste