Vorab soll verdeutlicht werden, dass ich zwischen dem humanistisch-ethischen und politisch-juristischen Koran unterscheide. Der Teil des Koran hingegen, der zur politischen und sozialen Organisation der Gemeinde des Propheten diente, kann nur aus seinem Entstehungskontext verstanden werden. Er hat keine Anwendungsgültigkeit in der heutigen Lebenswelt der Muslime. Dazu gehören auch die sogenannten Schwertverse, die Koranpassagen über den Umgang mit den Juden und Christen sowie die Koranstellen über die Stellung der Frau.
Historisch-kritisch gesehen kann zwischen dem historischen Muḥammad auf der einen Seite und dem Koran als Quelle des Glaubens auf der anderen unterschieden werden, denn der Prophet selbst war schlicht ein Verkünder von Gottes Wort. Ein Bezug allein auf die Inhalte des Korantextes befreit die historische Erforschung des Propheten auch von späteren muslimischen theologischen Projektionen, die ihn zum Beispiel als Analphabeten sehen.
3. Jede Muslimin und jeder Muslim hat die Freiheit, den Koran so zu interpretieren, wie sie oder er will.
Die Autonomie des Koran als religiöser Text setzt die Freiheit des Muslims als Exeget voraus und begründet gleichzeitig sein reflektierendes und sogar kritisches Verstehen, denn es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Entstehungssituation des Koran und der Lebenswelt des Exegeten. Die vielfache Exegese des Koran muss nicht unbedingt zu sich widersprechenden Interpretationen führen. Denn die aus einem freien und kreativen Umgang mit dem Korantext entstandenen Auslegungen können sich auch konstruktiv ergänzen und bereichern. Somit besitzt kein bestimmter Muslim oder keine muslimische Gruppe das Deutungsmonopol über den Koran. Dies bedeutet auch, dass jede Muslimin und jeder Muslim das absolute Recht hat, den Koran gemäß ihrer oder seiner Lebenswelt zu interpretieren.
Im Koran gibt es keinen Beleg dafür, dass es den Muslimen verboten wäre, frei zu denken. Immer wieder lesen wir im Koran den Aufruf, dass alle Muslime über ihre Religion und ihr Leben nachdenken und reflektieren sollen. In mehreren Kontexten ruft der Koran die Muslime dazu auf, sich ihrer Vernunft zu bedienen. Ausgedrückt wird dies mit verschiedenes Termini, die sich in einer spannungsvollen Weise ergänzen: Die Muslime sollen über den Koran „nachdenken“ (tadabbur, Koran 10:24 und 16:44); der Koran ist als Schrift in arabischer Sprache hinabgesandt, deshalb sollen sich die Muslime darüber „Gedanken machen“ (Koran 12:2 und 43:3); auch ist im Koran die Rede von Menschen, die in Sachen Religion „Verstand besitzen“ (ūlū al-albāb, Koran 3:190 und 38:29).
Mohammed Arkoun (1928–2010) betont, dass es im Islam keine Instanz gibt, die für sich die alleinige Autorität beanspruchen darf. Die Interpretationen des Koran könnten sich auf der Basis von Meinungsfreiheit und -verschiedenheit ergänzen. Deshalb sei der Koran, wie jede religiöse Schrift, offen für alle Interpretationen, die das Wort Gottes mit neuen Sinninhalten bereichern. Es sei selbstverständlich, dass der Koran nicht nur religiöse Informationen mitteile, sondern Kommunikation stifte und die Menschen zum Nachdenken ermutige. Daher sei die Freiheit der Interpretation grundlegend.32
Die Freiheit der Muslime bei der Exegese ist in meinen Augen ein wesentliches Element, besonders wenn es um die Etablierung eines diskursiven Islam im westlichen Kontext geht. Der Anspruch auf das Monopol einer einzigen und richtigen Lesart der kanonischen Quellen und der Wissenstradition kann von keinem Gelehrten und von keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Gruppierung, wie etwa hierzulande den sogenannten Dachverbänden, beansprucht werden, denn dies führt zur Unmündigkeit des Textes und des Lesers. Eine übergeordnete Lehrinstitution gab es in der Geschichte des Islam nicht und jeder heutige Versuch, eine solche zu schaffen, würde nicht nur das Verstehen des Islam und seiner Ideengeschichte stagnieren lassen, sondern die Freiheit der pluralen Interpretation aufheben.
Der Ruf nach der Autonomie des Koran als Text und nach der Freiheit der Interpretation ist eine Ermutigung der Muslime zur Erneuerung der islamischen Religion sowie die Voraussetzung für eine Wiederbelebung des freien Denkens aller Muslime. Die Freiheit der Koranauslegung impliziert auch die Freiheit all jener Andersdenkenden, die ebenfalls nach einer modernen und humanistischen Lesart des Koran streben. Selbstverständlich bedeutet freie Interpretation weder plakative Ablehnung noch Revolution gegen das historische Erbe der islamischen Kultur. Eine freie Interpretation ist darum bemüht, die kanonischen Quellen und deren Rezeption historisch-kritisch zu verstehen. Sie will den Koran bewusst von seinem hagiografischen Sinn befreien. Deshalb ist und bleibt die Freiheit des muslimischen Lesers als Exeget unantastbar.
4. Eine Reform des Islam
braucht mutige Reformer.
Selbstverständlich können und müssen alle Muslime ihre eigene Religion reflektieren, denn sie sind diejenigen, die die Verantwortung für ihre Entscheidungen und ihr Handeln im Diesseits tragen. Auch im Jenseits werden alle Menschen zur Rechenschaft gezogen für das, was sie in ihrem Leben gemacht haben. Kein Muslim hat das Recht, sich zum Fürsprecher anderer aufzuschwingen. Und doch benötigen auch Muslime geistige Wegweiser, besonders in Zeiten der Sinnkrise ihrer Religion. Eine religiöse Reform formiert sich immer zu einem Zeitpunkt, an dem die Auslegung der Religion als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. Oft wird sie durch eine politische oder soziale Krise in Gang gesetzt und beschleunigt. Vor der Formierung einer Reformbewegung sind kreative Kräfte zumeist in den Hintergrund gerückt. Ein Gefühl der Unterlegenheit und der Frustration kennzeichnet die Mentalität der Menschen. Es scheint, dass die Gesellschaft auf einzelne Personen wartet, die die Kraft und den Mut haben, der Reform des Glaubens neuen Schwung zu geben. Die Träger einer Reformbewegung sind sich der kollektiven Depression ihrer Gesellschaft bewusst und versuchen, sozusagen als geistige Handwerker, ihre Umgebung zu reparieren und die wahren religiösen Prinzipien wiederzubeleben.
Die Reform des Islam benötigt mutige, aufrichtige Reformer – Intellektuelle, die den Finger in die Wunde der Zeit legen. Diese Menschen sind humanistische Muslime, die ihre Aufgabe darin sehen, zu klären und aufzuklären. Sie sind heute wichtiger denn je, denn sie haben den Mut, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und mit Tabus zu brechen – und zwar gegen alle Widerstände. Sie erlauben anderen, vollständig an ihrem Aufklärungsprogramm teilzunehmen, und bleiben – ohne Furcht vor den Reaktionen anderer – bei ihrer Wahrheit. Sie riskieren den Zorn und die Wut der Vertreter des konservativen Islam, gehen dabei ein hohes Risiko ein und setzen nicht selten ihr eigenes Leben aufs Spiel.
Ein vorbildhaftes Beispiel für solche freien Geister findet sich sogar im Koran selbst, nämlich an jener Stelle, wo es zum Dialog zwischen Gott und den Engeln kommt (Koran 2:30–34). Am Beispiel dieser Stelle möchte ich gern eine humanistische Lesart des Korantexts demonstrieren.
Es findet an dieser Stelle im Koran ein einmaliger Dialog zwischen Gott und den Engeln bezüglich der Einsetzung eines menschlichen Vertreters auf Erden statt. Nach der Erschaffung des Diesseits – Erde und Himmel – teilt Gott den Engeln mit, dass er sich einen Vertreter auf Erden erschaffen will. Die Engel sind nicht begeistert von Gottes Vorhaben. Sie schweigen aber nicht, sondern äußern unmissverständlich und mutig, was sie denken. Die Engel waren über das Vorhaben nicht nur erstaunt, sondern mit dem Projekt Gottes schlicht nicht einverstanden. Vielleicht hofften sie, dass Gott sich über sein Vorhaben mit ihnen beraten würde, in der Hoffnung, dass er es revidiert. Somit sind die Engel nicht mehr nur als Diener Gottes zu betrachten, sondern als ihm ebenbürtige Gesprächspartner.
Als Mensch mutig und frei zu sein, wenn es um den Islam geht, ist freilich keine einfache Aufgabe, denn im Islam wird zwischen konstruktiver Kritik und Schmähung nicht unterschieden. Jede noch so sachliche und fundierte Kritik wird als Verrat an der eignen Religion betrachtet und Reformer werden als Nestbeschmutzer verunglimpft. Der „Wahrsprecher“ riskiert Feindseligkeit, Hass und Tod, besonders wenn sein Gegenüber