Reform des Islam. Abdel-Hakim Ourghi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Abdel-Hakim Ourghi
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Культурология
Год издания: 0
isbn: 9783532600184
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Islam eingesetzt haben. Schon im Jahr 1885 erschien das Buch des algerischen Gelehrten Muḥammad Ibn Muṣṭafā Ibn al-Ḫūğa (1864–1915) mit dem Titel Beachtung der Sorge um die Rechte der Frauen, in dem es um die Befreiung der muslimischen Frauen ging. Fünf Jahre später verfasste der ägyptische Reformer Qāsim Amīn (1865–1908), der in Frankreich studiert hatte, sein monumentales Werk Die Befreiung der Frau.27 Zu den Hauptthesen des Werkes gehört erstens, dass der Aufruf zur Befreiung der Frau kein Verstoß gegen die Religion ist. Zweitens betont er, dass die Trennung zwischen Frauen und Männern nicht auf das islamische Recht zurückzuführen ist. Drittens – seine wichtigste These –, dass der in seiner Zeit sich ausbreitende Schleier überhaupt nichts mit dem Islam zu tun habe. Im Jahr 1925 dann schrieb der Reformgelehrte ʻAlī ʻAbd ar-Rāziq (1888–1966), der in Oxford studiert hatte, ein Buch mit dem Titel Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft.28 Seine wichtigste These besagt, dass es im Koran und in der Tradition des Propheten keine Legitimation für einen Herrschaftsanspruch gibt. Dass der Prophet auch Herrscher war, wäre eine geistliche und politische Entscheidung gewesen, die mit den damaligen Umständen im 7. Jahrhundert zu tun gehabt hätte. Mit dieser These wollte der Autor einen klaren Trennstrich zwischen dem Profanen und dem Heiligen ziehen, was zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der historischen Funktion des Propheten hätte führen können. Doch ʻAbd ar-Rāziq wurde aus seinem Amt als Richter entlassen und lebte bis zu seinem Tod zurückgezogen. Die Liste solcher Werke als Fundament für den liberalen Islam kann beliebig verlängert werden. Fest steht, dass es bereits all diesen muslimischen Reformern in erster Linie um „eine islamisch begründete säkulare Moderne“29 ging, die jedoch bis heute, auch im Westen, bekämpft wird.

      Der oben zitierte Reformgegner Murtaza scheint außerdem der Überzeugung zu sein, dass die Erneuerungsbestrebungen im Islam aus den Moscheen kommen.30 Konkretes teilt er uns leider nicht mit. Schade, es wäre tatsächlich ein konstruktiver Vorschlag. Denn würden die Imame in den Moscheen sich mit der Vernunft versöhnen, wäre es möglich, eine Reform des Islam in die Tat umzusetzen. Die Geschichte der Moscheen im Westen, in denen Import-Imame tätig sind, zeigt jedoch, dass sie au contraire einen erheblichen Anteil an der gescheiterten Integration vieler Muslime haben. Es ist – mit Blick auf diese Moscheen – kein Wunder, dass die Mehrheit der Muslime nationalistisch und konservativ sind. Ein schlagender Beweis sind die Moscheen der DITIB und des Zentralrats der Muslime.

      Die Import-Imame sind den heutigen Herausforderungen im Westen noch nicht gewachsen, deshalb sind sie nicht in der Lage, den Islam zu reformieren und sich an die Moderne der westlichen Kultur anzupassen. Diese Gelehrten, die von ihren Kollegen in der islamischen Welt letztendlich nicht zu unterscheiden sind, haben eine Art Frage-Verbot in den muslimischen Gemeinden Europas institutionalisiert. Mit vorgefertigten Antworten zwingen sie den Mitgliedern ihrer Gemeinden ihre Lehre auf und berufen sich dabei auf veraltete Sichtweisen, die angeblich für alle Zeiten und alle Orte gedacht waren. Ihre Predigten kommen als Gewissheiten daher, die zu befolgen sind und von niemandem in den Moscheen infrage gestellt oder bezweifelt werden dürfen. Jeder Imam, der die historisch-politische Rolle oder die Aussagen des Propheten, oder etwa den medinensischen Koran infrage zu stellen versucht, wird aus seiner Moschee verjagt. Denn die kanonischen Quellen sind ein Tabu.

      Ein alternativer Ursprungsort einer Reform des Islam könnte der islamische Religionsunterricht sein. Der schulische Religionsunterricht wäre tatsächlich in der Lage, das Gesicht des Islam im Westen und die hiesige religiöse Landschaft zu verändern. Er könnte eine neue Generation des Islam in Europa an eine säkulare Gesellschaft heranführen, in der moderne Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie unantastbar sind.

      Was die konservativen Muslime und ihre Vertreter in der intellektuellen Szene wie Murtaza hingegen propagieren, ist die Re-Islamisierung der Moderne. Sie predigen eine Gegenaufklärung als Denk- und Lebensmodell. Im Sinne dieser Re-Islamisierung ist Widerstand nicht nur gegen die Vernunft zu beobachten, sondern auch gegen alle aufgeklärten Bestrebungen, welche die religiöse Legitimität der historischen und gegenwärtigen Herrschafts- und Patriarchatsstrukturen auf den Prüfstand stellen.

      Diesen Gegnern der Aufklärung geht es letztendlich um die Deutungshoheit. Sie wollen bewusst verhindern, dass die Muslime in Glaubensfragen und religiösen Angelegenheiten dem eigenen Gewissen folgen. Sie wollen bestimmen, wie die Beziehung des Menschen zu Gott aussehen soll. Darüber hinaus schüren sie unter den Menschen die Furcht vor einem Gott, der nur darauf wartet, sie schonungslos in die Hölle zu schicken. Seit Jahrhunderten versetzen sie die Muslime permanent in Angst.

      Die Verweigerer der islamischen Reform wissen genau, dass der reflektierte Islam eine Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutet. Sie sind sich auch der Tatsache bewusst, dass die Muslime durch die Anwendung der Vernunft in ihrem Glauben und Handeln den Geist der Freiheit atmen könnten. Schließlich geht es in der Reform des Islam nicht darum, das Unmögliche zu wagen, um das Mögliche zu erreichen. Es geht lediglich darum, die kanonischen Quellen des Islam, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem Menschenwort geworden sind, auf der Grundlage der Vernunft zu diskutieren, differenzierter wahrzunehmen und besser zu verstehen. Es geht darum, die Religiosität der Musliminnen und Muslime in Angstfreiheit wachsen und reifen zu lassen, hin zu mehr Kreativität und sozialer Mitverantwortlichkeit. Die Reform des Islam ist heute notwendig und auch möglich. Es fehlt uns lediglich der Mut dazu.

      Ziel der Reform des Islam ist es, dass der Islam in religiösen Angelegenheiten auf dem Prinzip der Vernunft aufbaut. Es genügt nicht, nur über die Vernunft zu sprechen; die Muslime müssen sie sich im religiösen Diskurs zu eigen machen. Dadurch kann der Islam anderen Religionen und Weltanschauungen auf Augenhöhe begegnen. Unter Vernunft in der Religion verstehe ich auch die Trennung von Sakralem und Säkularem. Auch im Islam sollen Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen und zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Mittelpunkt stehen. Diese humanistischen Werte sind die Grundlage für ein tolerantes und friedliches Leben unter Muslimen, mit den Anhängern anderer Religionen und mit andersdenkenden Menschen.

      Die Reform des Islam will für Muslime aller Couleur den Einfluss eines veralteten mittelalterlichen Islamverständnisses eindämmen. Hierbei geht auch um den sogenannten Islam des Konsenses (islām al-iğmāʻ)31, der den früheren Gelehrten nachgesagt wird, die ihre Lehre und ihre Diskurse in Eintracht gepflegt haben sollen. Interessant ist, dass viele muslimische Rechtsgelehrte auf den Konsens der Prophetengefährten (aṣ-ṣaḥāba) und der ersten Generation der Muslime im 7. Jahrhundert abheben. Durch die Kanonisierung des Konsenses als normative Bedingung in schariarechtlichen und anderen Fragen der Religion werden heutige Muslime genötigt, genau wie die Muslime von damals zu denken. Dieser Islam der autoritären Kollektivität kassiert die kreativen Kräfte der Individuen und zwingt sie zur bloßen Nachahmung.

      Nie war die Aufklärung des Islam so notwendig wie heute, in der Zeit des globalen islamistischen Terrors. Nicht nur Muslime, auch viele Nichtmuslime sehen die Dringlichkeit einer konstruktiven Selbstkritik des Islam. Umso wichtiger ist eine Aufklärung, die betont, dass der Islam in erster Linie ein Glaube voller Spiritualität ist. Der Islam ist keine militante, die Weltherrschaft erstrebende Gemeinschaft. Er ist keine staatliche Ordnung mit einem Totalitäts- und Universalanspruch auf die ganze Menschheit. Er ist eine geistliche Bewegung, eine Religion, welche die Bindung des Individuums an Gott und den treuen Glauben festigen will. Der Islam besteht aus dem religiösen Angebot spiritueller Werte, die ein tiefes religiöses Leben ermöglichen und fördern. Nun sind wir herausgefordert, eben diesen aufgeklärten Islam zu etablieren.

      I V. D I E V I E R Z I G T H E S E N

       „… die Fragen selbst liebzuhaben,

       wie verschlossene Stuben

       und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

       geschrieben sind.“

      Rainer Maria Rilke

       Europäischen Islam.

      Genau