Die Weisheit der Götter. Rupert Schöttle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rupert Schöttle
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Музыка, балет
Год издания: 0
isbn: 9783990404249
Скачать книгу
„Maestro scaligero“ inne, der ihm vom Intendanten der Mailänder Scala verliehen wurde, deren musikalische Direktion er im Jahre 2011 übernahm und bis 2014 innehatte.

      Dass er während seines langen und reichen Künstlerlebens ein breites Repertoire erarbeitet hat, ist nicht verwunderlich. So hat er neben den üblichen klassischen Werken auch Duke-Ellington-Titel, Tangos, afroamerikanische Stücke und brasilianische Werke aufgenommen.

      Im Jahr 2005 wurde in Berlin auf seine Initiative hin der erste Musikkindergarten gegründet, bei dem er auch als Erzieher hervortritt, weil „unser gesamter Musikbetrieb seine Funktion verliert, wenn wir weiterhin die musikalische Bildung der Kinder vernachlässigen“, wie er in seiner Eröffnungsrede zu einer Bildungswerkstatt für Kinder betonte. Dass solche Äußerungen nicht nur als Lippenbekenntnisse zu verstehen sind, bewies er damit, dass er die Dotierung des „Ernst-von-Siemens-Musikpreises“, der ihm 2006 verliehen wurde, zur Gänze spendete, wobei er zwei Drittel für die Sanierung der Berliner Staatsoper und das restliche Geld in seine Musikstiftung fließen ließ. Darüber hinaus gründete er in Berlin mit der Barenboim-Said-Akademie eine pädagogischen Einrichtung im Geist des West-Eastern Divan Orchestra, wie auch ein Projekt für Musikerziehung in den Palästinensergebieten.

      Bei dieser Vielzahl von Aktivitäten – schließlich ist er auch mehrfach als Buchautor hervorgetreten und hat ein neuartiges Klavier entwickelt – sollte man meinen, Barenboim wäre ein rastlos Getriebener, der ständig zwischen seinen vielfältigen Verpflichtungen hin und her pendelt. Doch damit würde man seiner Person nicht im Mindesten gerecht, handelt es sich bei ihm doch um einen höchst humorvollen und geistreichen Gesprächspartner, der auch den gemütlichen Seiten des Lebens einiges abzugewinnen weiß. Als „Normalsterblicher“ fragt man sich natürlich, wie dies bei solch einem Arbeitspensum möglich ist.

      Doch darauf gibt es nur eine Antwort: Daniel Barenboim ist eben ein Phänomen.

      FRAGEN AN DANIEL BARENBOIM

       Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

      Natürlich Mozart. Es gibt gute und schlechte Komponisten, es gibt große Komponisten – und es gibt Mozart. Es ist unfassbar, was alles in seiner Musik steckt und in welch kurzem Zeitraum er all dies geschaffen hat. Und dabei war er sicherlich ein sehr lustiger Mensch. Ein Abend mit Mozart wäre eine Lektion fürs Leben. Ich würde ihn nichts fragen wollen, ihn nur beobachten.

       In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

      Kann ich nicht sagen. Es gab zu allen Zeiten gute und schlechte Komponisten. Zeitgenössische Musik interessiert mich nur dann, wenn sie gut ist, etwa von Carter, Boulez, Lutosławski und Birtwistle.

       Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

      Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich auf der Bühne vom Urtext entfernt, es ist vielmehr ein Problem der Subjektivität, also dem Fehlen der Objektivität. Bei der absoluten Musik empfinden wir vielleicht unterschiedlich in der Intonation oder in der Lautstärke, aber wir sind uns einig über den Ton, der gespielt werden muss. Auf der Bühne ist es etwas ganz anderes: Da erzählt man eine Geschichte. Dabei sucht man manchmal Originalität mit künstlichen Mitteln. Und dazu benötigt man ein Konzept, das manches Mal sicherlich interessant sein kann. Doch leider wird dann häufig das Konzept, das heißt, das subjektive Empfinden inszeniert – und nicht das Stück selbst.

       Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

      Dies hängt sicherlich mit dem Ende der Tonalität zusammen. Ein Urelement der Musik, die so wichtige Dualität von Spannung und Auflösung, die für den Zuhörer von großer Wichtigkeit ist, ging mit der Tonalität verloren. Die gibt es zwar auch in der atonalen Musik, dort jedoch ist sie viel schwieriger zu begreifen. Zwar wurden in den letzten Jahren, auch dank der Bemühungen von Pierre Boulez, große Fortschritte in der Rezeption von zeitgenössischer Musik gemacht. Dennoch gibt es heutzutage Milliarden von zum Teil hoch gebildeten Menschen, die überhaupt keinen Bezug zur Musik und daher erst recht keinen Zugang zur neuen Musik haben.

       Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

      Das liegt auch daran, dass die Orchester besser geworden sind. Viele Probleme, die früher ein Dirigent gelöst hat, stellen sich heute dem Orchester nicht mehr. Vor 30 oder 40 Jahren war etwa die „Siebte“ von Mahler ein Koloss, den ein Orchester niemals ohne Dirigent hätte spielen können. Auch dadurch, dass sich das Repertoire nicht mehr ständig vergrößert, ist die Repertoirekenntnis der Musiker naturgemäß viel größer geworden. Zudem verlangt man heute von einem Dirigenten, dass er schon fertig auf die Bühne kommt. Der kann aber, im Gegensatz zu einem Instrumentalisten, zu Hause nicht üben.

      Herbert von Karajan hat zu mir einmal gesagt: „Ein Dirigent braucht zehn Jahre, von dem Tag an, an dem er regelmäßig dirigiert, bis er zu dem Punkt kommt, an dem er von dem Orchester bekommen kann, was er haben möchte. Erst nach diesen zehn Jahren kann man überhaupt erkennen, ob es sich um einen begabten oder unbegabten Dirigenten handelt.“ Wenn heute ein junger Dirigent auftaucht, werden sofort die höchsten Erwartungen an ihn gestellt, die er natürlich nicht erfüllen kann. So erwartet man von ihm, dass er einen Betrieb leiten kann und sich bestens in der Kulturpolitik auskennt – zusätzlich zum handwerklichen Können.

       Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

      Nicht diejenige, die sie haben müsste, denn es gibt keine musikalische Bildung. Wenn wir wollen, dass unser musikalisches Leben noch in 50 Jahren in ähnlicher Form existiert, muss ein radikales Umdenken in der musikalischen Bildung einsetzen.

       Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

      Die Frage hat sich mir niemals gestellt.

       Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

      Hauptsächlich Furtwängler. Er hatte eine eigene Mischung aus Denken und Fühlen und die Fähigkeit, aus dem Moment Neues zu schöpfen.

       Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

      Ich habe so viele gehabt … Klavierabende von Rubinstein, Konzerte mit Kubelik …

       Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

      Lesen, Theater, Kino.

       Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

      Nichts.

       Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

      Ja und Nein. Nein, weil der Text ja gleich bleibt. Was in den Noten steht, und damit meine ich auch, was zwischen den Zeilen steht, ergibt allerdings mehr Möglichkeiten, als in einer Aufführung realisierbar sind. Ein Kunstwerk ist wie ein Berg. Man sieht nur einen Teil, wenn man vor ihm steht, der andere bleibt verborgen, es beinhaltet also viel mehr, als der Mensch auf einmal erkennen kann. Und jeder Zeitgeist legt einen anderen Akzent auf die Sichtweise.

       Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

      Die musikalische Erziehung.

       Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

      Zuerst einmal würde ich versuchen, ein paar falsche Töne weniger zu spielen. Ansonsten bin ich zufrieden, weil ich meinen Frieden mit meinen Grenzen geschlossen habe. Ich versuche, stets mein bestes Niveau zu erreichen. Niemand spielt zufällig besser, als er ist, er spielt zufällig schlechter, weil er aus irgendeinem Grund nicht in idealer Form ist. Unser Bestes ist unser Niveau, und danach