Erst jetzt beginnt nach der äußeren Befreiung im Alten Testament der lange Prozess der inneren Befreiung des Menschen im Neuen Testament. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Gal 5, 2) Auch dieser Prozess dauert in der Weltgeschichte einige Zeit. Was in der Biografie des Einzelnen zehn oder 20 Jahre dauert, dauert in der Weltgeschichte vielleicht 1000 oder 2000 Jahre. Nach dem alten Satz, „dass beim Herrn ein Tag wie 1000 Jahre und 1000 Jahre wie ein Tag sind.“ (2 Petr 3, 8) Auch die europäische Geschichte musste sich erst mühsam über viele Kriege zu dieser Befreiung hin durchkämpfen. In Nordafrika und in den muslimischen Ländern beginnt sie gerade erst.
Es sieht so aus, als würde die äußere Befreiung, die im Judentum begonnen hat und die sich als innere Befreiung des Menschen im Christentum weiterentwickelt, erst jetzt in der Gegenwart ganz langsam beim Menschen ankommen. Der Mensch befreit sich mehr und mehr von Über-Ich-Strukturen und äußeren Autoritäten. Das hat mit der 68er Generation begonnen und setzt sich fort im Raum der Kirche. Der Mensch emanzipiert sich von äußeren Über-Ich-Strukturen. Er will sich von äußeren Autoritäten nichts mehr sagen lassen. Er möchte selbst entscheiden können, was er tut, und er möchte selbst herausfinden, worum es im Leben geht.
Er möchte Zusammenhänge verstehen lernen sowie innere geistliche Erfahrungen machen, und nicht mehr nur Befehlen, Geboten oder Verboten folgen. Er braucht Argumente, um einsehen zu können, warum er so oder so handeln soll, und er bedarf der Reflexion über seine inneren Erfahrungen, um sein Innenleben verstehen zu können und zu erkennen, was in ihm vorgeht. Es ist der Überstieg von der äußeren Autorität hin zur inneren Autorität. Dies ist die wahre Autorität (von „augere“: „wachsen lassen“). Denn diese innere Autorität macht den Menschen nicht klein und unterdrückt ihn, sondern macht ihn groß und führt ihn in die Freiheit und Autonomie.
Und so gehört beides zusammen: Ethik und Spiritualität. Es ist eine zentrale Aufgabe für das Christentum, dem Menschen ethische Argumente für sein Handeln zu liefern und ihm zu helfen, seine inneren Erfahrungen und Seelenregungen verstehen zu lernen. Das eine ist die äußere Autorität der Normen, und das andere ist die innere Autorität der Wahrheitsstimme, des Gewissens, der Stimme Gottes. Die verschiedenen Stimmen und Seelenregungen im Menschen unterscheiden zu lernen (s. u.), nennt die Tradition die „Unterscheidung der Geister“. Gerade diese Kenntnis ist heute von zentraler Bedeutung für konkrete Entscheidungsfindungen im Alltag. In beiden Bereichen müsste der Mensch von heute besser unterrichtet werden.
Es scheint so zu sein – allem Wehklagen zum Trotz –, dass Gott dem Menschen heutzutage noch näher kommt als im Judentum und im bisherigen Christentum: Der Mensch kann Gott und sein Wirken in seiner leiblichen Verfasstheit erspüren. Aber er braucht „Lehrer“, die ihm helfen, das zu entdecken. Es scheint nämlich so zu sein, dass das Normalste und Selbstverständlichste in der Welt zu etwas Göttlichem wird: dass man sich über etwas freuen kann, dass man sich irgendwie fühlt, dass man irgendwie in Stimmung ist, dass man – wie Heidegger sagt – immer irgendwie gestimmt ist: fröhlich, traurig, gelangweilt, interessiert, zerrissen oder ganz bei sich, in seiner Mitte oder „außer sich“. All diese Stimmungszustände haben etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott zu tun. Diese inneren Gestimmtheiten verstehen zu lernen, wäre heutzutage ein wichtiges Desiderat für die Vermittlung von christlicher Spiritualität. Denn Gott zeigt sich ganz still und ganz verborgen, er will gefunden und entdeckt werden. Vielleicht sollte man deswegen auch nur ganz sparsam über ihn reden, umso mehr mit ihm.
Eine solche christliche Spiritualität sollte dem Menschen durch konkrete Alltagsanleitungen helfen, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist eine Spiritualität der richtigen Entscheidungen und des Handelns aus der inneren Mitte heraus. Diese Entscheidungen wären nicht von außen aufoktroyiert, sondern von innen her als richtig und tragfähig erkannt (vgl. das Kapitel über die Unterscheidung der Geister). Anders gesagt: Wenn Gott dem Menschen innerlicher ist als er sich selbst ist, (Augustinus) dann kann der Mensch aus dieser inneren Mitte heraus bessere Entscheidungen treffen als ohne diese Anbindung – und die Wahrheit nicht nur besser erkennen, sondern sie vor allem tun, und das heißt, das Richtige tun! Daher heißt es im Neuen Testament: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht.“ (Joh 3, 12)
Vielleicht kann man als Zwischenresümee Folgendes feststellen: Es hat den Anschein, als würde die Welt immer säkularer. Ein Teil davon ist auch sicher richtig. Aber vielleicht gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Gott rückt dem Menschen innerlich immer näher. Es ist die Zeit der Suche nach innerer Erfahrung, die Zeit der Mystik, zumindest eine Zeit der Sehnsucht danach. Wieder anders betrachtet wird die Welt scheinbar immer unabhängiger von Gott oder bestimmten Gottesbildern. Man braucht Gott offensichtlich nicht in der Medizin, weil vieles machbar geworden ist, man braucht ihn nicht als Erklärungslückenbüßer in der Natur, weil vieles naturwissenschaftlich erklärbar geworden ist, man braucht ihn kaum noch in der Ethik, weil sehr vieles philosophisch durchreflektiert wurde (Menschenwürde, Menschenrechte, Personencharakter des Menschen, Schutz des Individuums).
Der Mensch scheint ihn auch nicht zu brauchen, er kommt offensichtlich auch ohne Gott ganz gut aus. So wird die Welt säkularer, und es fragt sich, ob das Christentum selbst zu dieser Säkularisierung beigetragen hat,24 weil der Glaube die intellektuelle Auseinandersetzung sucht (fides quaerens intellectum, der Glaube sucht den Intellekt). Vieles, was früher zum Thema Glauben gehörte, ist heute entweder erklärbar oder unwesentlich geworden. So müssen wir im Folgenden weiterfragen, wie es um die Frage nach Gott und den Glauben heute steht, wie Gott sich heute zeigt und welche Transformationsprozesse zurzeit ablaufen.
Um sich zunächst der Frage nach Gott und seiner Erscheinungsweise im Menschen Jesus Christus zu nähern, kann man zwei Wege wählen. Man kann entweder fragen, ob das überhaupt denkbar ist, dass Gott Mensch geworden ist, und dann von dort aus das Verhältnis von Gott Vater und dem Mensch gewordenen Sohn rekonstruieren. Dann stellt sich das Problem, dass man einige Voraussetzungen übernehmen muss, die erst hinterher erklärt werden können. Oder man geht den umgekehrten Weg – der hier eingeschlagen wird –, dass man zunächst die Setzung des Christentums mit einem dreifaltigen Gottesbild übernimmt und dann rückwärts aufrollt, wie es dazu gekommen ist: beide Wege haben ihre Schwäche, weil man immer zuerst etwas voraussetzen muss, was erst später erklärt werden kann. Dem Leser kann diese Mühe leider nicht erspart bleiben. Wenn er offen ist, kann er den Weg gut und leicht mitgehen. Es ist auch der Versuch, das Gottesbild mit Grundstrukturen der Welt in Verbindung zu bringen.
2. Das dreifaltige Gottesbild – Die Grundstruktur der Welt ist Beziehung
Man kann einen ersten Zugang zur heutigen Gottesfrage finden, indem man sich dem christlichen Gottesbild zuwendet. Es ist ein Gottesbild, bei dem das Wort des Gottes Mensch wird. Dieser Mensch gewordene Gott (Jesus Christus) nennt den Gott Jahwe seinen Vater. Das Verhältnis beider wird vermittelt durch den einen göttlichen Geist, den Heiligen Geist. Die Theologie sagt, dieser Gott sei ein Gott in drei Personen. Und dann geht es um die Frage, wie man sich dieses Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist vorstellen kann. Es geht dabei um das Verhältnis dieser drei göttlichen Personen vor der Erschaffung der Welt und nach der Erschaffung der Welt, also in dieser Welt. Es geht auf der einen Seite um ein innergöttliches Geschehen und auf der anderen Seite um das Verhältnis dieses Gottes zum Menschen in dieser Welt. Philosophisch kann man es so ausdrücken: Der Grund allen Seins ist nicht eine starre Substanz, sondern ein dynamisches Beziehungsgeschehen zwischen Vater, Sohn und Geist. Es ist ein Beziehungsgeschehen des Dialoges und der Liebe, und in dieses Beziehungsgeschehen ist der Mensch mit hineingenommen.
Gott ist also schon vor Erschaffung der Welt ein Beziehungsgeschehen in sich selbst in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Er ist sich selbst genug und braucht die Welt nicht als Gegenüber. Das bedeutet zweierlei: Er ist in sich ein Liebesgeschehen dreier Personen und er ist dadurch ganz frei. Gott braucht die