Ansgar schwieg und sah Frida an. Schließlich sagte sie: „Ja, das habe ich bei den Bildern auch gemerkt. Und weißt du, was ich denke?“
„Nein.“
„Ich denke, wir sind hier, um herauszufinden, was da los ist.“
Ansgar grinste. „Aha, so einfach ist das!“
„Klar“, nickte Frida. „Uns ist es aufgefallen, und deswegen müssen wir es auch herausfinden.“
Ansgar überlegte und sagte dann: „Ich hab übrigens heute unter einem Vorwand da drüben geklingelt, um einen Blick in das Haus zu werfen.“
„Und?“
„Es sieht so aus, als ob in dem Haus gar nicht richtig gewohnt wird. Da geht irgendetwas anderes vor sich. Aber was?“
„Mensch, das ist ja total spannend. Lass uns einen Plan machen.“
„Ja, aber vorher werden Hausaufgaben gemacht.“
6
Wir fuhren vom Gottesdienst nach Hause, saßen nachmittags draußen im Garten und aßen ein paar belegte Brote. Die Herbstsonne schien noch ziemlich intensiv. Unnötig zu erwähnen, dass Jeschua keine Sonnenmilch brauchte.
Wir hatten gerade gemeinsam überlegt, wie wir das Reisen organisieren sollten. Da meine Frau Charlotte einen normalen Beruf hatte und sich nicht einfach ein paar Wochen frei nehmen konnte, vereinbarten wir mit Jeschua, dass sie jeweils an den Wochenenden nachkommen würde.
„Aber bevor wir auf Reisen gehen“, sagte er zu mir, „solltest du einen Reinigungsprozess durchlaufen, damit du meine Gegenwart auf Dauer aushalten kannst.“
Ich fing an zu schwitzen. „Was für einen … einen Reinigungsprozess?“
Ich sah im Geist eine himmlische Waschmaschine, in die man mich stecken würde, und den anschließenden Schleudergang wollte ich mir erst gar nicht vorstellen.
„Denk an Jesaja, an Paulus und an die anderen“, sagte er. „Alle Leute, die mit Gott in Berührung kamen, mussten für ihren Dienst gereinigt oder geläutert werden.“
Ich erinnerte mich an die Berufung Jesajas, dessen Lippen mit glühenden Kohlen gereinigt wurden, natürlich nicht buchstäblich.
„Du vergleichst mich mit Jesaja, dem Giganten des Alten Testaments? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“
„Ich wollte dir nur Beispiele nennen. Ich selbst wurde auch in der Wüste gereinigt, bevor ich in die Öffentlichkeit trat. Eine sechswöchige Fastenkur.“
„Aber … aber warum denn? Ich soll dich doch nur begleiten und hinterher alles aufschreiben oder aufschreiben lassen.“
Jetzt lächelte Jeschua und sagte: „Es ist schon merkwürdig. Kein Jahrhundert hat so viel Wert auf äußere Reinigung gelegt wie dieses Jahrhundert. Es gibt tausend verschiedene Reinigungsmarken, vor jeder OP wird alles gründlich gereinigt und sterilisiert. Es gibt Reinigungsmilch für das Gesicht, es gibt Abführmittel, um den Darm vor einer Darmspiegelung zu reinigen. Millionen von Menschen arbeiten in Reinigungsfirmen, aber ausgerechnet der wichtigste Teil des Menschen, die Seele, scheint von der Reinigung ausgeschlossen zu sein. Niemand scheint es zu kümmern, dass euer Inneres mit der Zeit verdreckt, abstumpft und langsam einrostet!“
Ich schwieg betroffen und hörte ihm weiter zu.
„Ich habe euch doch die Vergebung zurückgelassen, damit ihr euch immer wieder reinigen könnt. Die Katholiken haben immerhin noch die Vergebung in Form eines alten Beichtrituals beibehalten, aber ihr Evangelischen denkt, man muss nur den Satz aussprechen: Ich bekenne meine Schuld, und alles sei weggewischt. Das wäre so ähnlich, wie wenn eine Putzfrau bei einem verdreckten Zimmer ausrufen würde: Ich bekenne, dass dieses Zimmer dreckig ist, ich glaube an die Reinigungskraft von Bürste und Seife. Und dann würde sie darauf hoffen, dass sich das Zimmer von selbst reinigt.
„Ja, aber“, begann ich, „muss ich jetzt in mich gehen und alles hervorholen, was ich an Falschheiten und Sünden in den letzten Jahren begangen habe und sie vor Gott präsentieren?“
„Keine Angst, diese Arbeit macht der Heilige Geist in dir. Du musst nur bereit sein, dich deinen Verkrustungen, blinden Flecken und Sünden zu stellen, sie Gott hinhalten, und er wird dir vergeben. Das ist wie das Bad in einem Kristallsee. Herrlich erfrischend.“
Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Ich will dich aber nicht bedrängen. Wenn du nicht gereinigt werden willst – okay. Alles im Reich Gottes geschieht freiwillig. Aber dann musst du damit rechnen, dass dir meine Gegenwart mit der Zeit auf die Nerven geht, dass du müde und lustlos wirst, kraftlos und ohne Elan. Es ist für mich kein Problem, jemand anderen zu finden. Also: überleg dir’s.“
„Und was ist mit meiner Frau, muss die auch so ein … ein Reinigungsdings über sich ergehen lassen?“
Ich sah, wie Charlotte unruhig wurde.
„Kümmere dich nicht um deine Frau, sie geht ihren eigenen Weg.“
Jeschua schüttelte den Kopf: „Was ist bloß passiert?“, seufzte er, „das schönste Geschenk, die Vergebung, fürchtet ihr wie der Teufel das Weihwasser. Ich dreh mal eine Runde durch eure Siedlung, dann hast du Zeit, dir alles einmal gründlich zu überlegen.“
Er stand auf und ging los, ohne sich umzudrehen.
Wir waren zunächst sprachlos. Die Sache, die so spektakulär angefangen hatte, ging plötzlich ans Eingemachte.
„Na ja“, meinte Charlotte, „er hat ja irgendwie recht, oder? Manche Leute putzen vor jeder Reise ihre Wohnung oder ihr Auto, aber an die Seele denkt niemand.“
„Seele, Seele“, murmelte ich. „Klar, die Katholiken glauben noch daran, aber in der protestantischen Theologie vermeidet man den Begriff. Der Mensch sei eine Einheit, heißt es. Was man früher Seele nannte, bedeutet einfach die lebendige Seite des Menschen, eine Funktion des Körpers. Gott schafft nach dem Tod alles neu …“
„Ach so“, führte Charlotte meine Gedanken weiter, „und wenn es keine richtige Seele gibt, dann muss sie auch nicht gereinigt werden?“
„So ähnlich. Ich dachte immer, die Vergebung ist eine Beziehungssache und nicht eine Bürste mit himmlischer Seife.“
„Aber wenn Jeschua das sagt? Er muss es schließlich wissen. Als er zu dem Verbrecher am Kreuz sagte: Heute wirst du mit mir im Paradies sein, dann hat er doch damit gerechnet, dass die gesamte Persönlichkeit dieses Mannes nach dem Tod woanders sein würde, oder nicht?“
„Ja schon. Seele – das ist ein völlig veralteter Begriff und …“
Ich hörte mit Sprechen auf, weil Jeschua wieder auftauchte.
„Na? Hast du dich entschieden?“
Ich seufzte. „Wir diskutieren gerade, ob es überhaupt eine Seele gibt, die dreckig werden kann.“
„Richtig, die Seele ist inzwischen aus der Mode gekommen. Vielleicht hilft es ja, wenn ihr sie mal kurz sehen könnt. Dazu muss ich eure inneren Augen öffnen. Augenblick mal.“
Ich wollte gerade sagen, wie das vor sich gehen sollte, da veränderte sich plötzlich die Umgebung. Ich war geplättet.
Neben mir und um uns herum standen eine Menge menschlicher Gestalten. Einige von ihnen leuchteten in wunderbaren Farben, andere sahen dunkel aus oder hatten eine dumpfe Ausstrahlung.
Ich sah zu meiner Frau hinüber und merkte, dass ihr Körper von innen leuchtete und einen silbrigen Glanz versprühte.
„Die meisten Seelen um euch herum können