„Aber warum dann dieses ganze Gerede von der Wiederkunft?“
„Nun, es ist gut, das Ziel zu kennen, und übrigens erscheine ich jedes Mal in Macht und Herrlichkeit bei allen, die mit mir verbunden sind und sterben und damit in den Himmel entrückt werden. Ich zeige ihnen ihr neues Zuhause, wie ich es versprochen habe. Insofern ereignet sich die Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit jeden Tag bei Tausenden von meinen Freunden, wenn sie hinüberwechseln. Aber eben noch nicht so bald auf der Erde. Das braucht noch Zeit.“
„Und wieso“, fragte ich, „wussten wir nichts von deinen heimlichen Wiederkünften?“
„Oh“, sagte er lächelnd und rührte in seinem Kaffee, „ihr hättet es wissen können. Es steht alles geschrieben.“
„Wo denn?“, fragte ich.
„Zum Beispiel bei Lukas. Da gibt es eine Szene auf dem Ölberg. Die Engel sagen sehr klar und deutlich am Tag der Himmelfahrt: Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird genauso wieder herabkommen, wie ihr ihn jetzt habt in den Himmel entschwinden sehen.
Da steht nichts von Pauken und Trompeten und Macht und Herrlichkeit. So still wie ich gegangen bin, genau so still werde ich immer wieder zu euch zurückkommen. Unerkannt, und nur von Einzelnen wahrgenommen. Man sollte das, was Engel sagen, wirklich einmal ernst nehmen.“
„Wann war denn deine letzte Ankunft gewesen?“
„Das vorletzte Mal vor ungefähr dreihundert Jahren. Eine Schwellenzeit in Europa: neues Denken, Freiheit des Einzelnen, der Aufschwung der Wissenschaften, Aufbrüche in den Kirchen. Dann war ich 1945 hier, als die Welt in Trümmern lag. Ich habe Hoffnung ausgesät bei Leuten, denen alles genommen worden war. Es gab viel zu tun … Fast war ich versucht, Ende der achtziger Jahre wiederzukommen, um die Ost-West-Barrieren abzubauen, aber es gelang uns auch so durch die intensive Arbeit des Heiligen Geistes – und durch Gorbatschow.“
Er blickte auf eine altmodische Uhr an der Wand und sagte: „Du musst demnächst zurück, sonst wirst du vermisst. Wir treffen uns am Samstag in einer Woche in Hannover, bei der Marktkirche gegen Mittag. Dann sehen wir weiter.“
Er reichte mir die Hand.
Ich schüttelte sie. Sie war warm und vollgepackt mit Energie. Eigenartiges Gefühl.
„Hast du denn Geld bei dir?“, fragte ich.
„Kein Problem. Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden, da werde ich wohl ein bisschen Geld auftreiben können.“
Das waren seine abschließenden Worte, die mir auf dem Rückweg in mein Quartier noch lange in den Ohren klingelten, vor allem quälte mich die Frage:
Warum leben wir in dieser chaotischen Welt, wenn er doch alle Macht in Händen hat und alles ändern könnte? Aber das habe ich erst später begriffen.
2
Ansgar Kolnik fuhr den Wagen vor das Haus und stieg aus. Er beeilte sich, so schnell er konnte, nach oben in seine Wohnung zu kommen. Seit gestern war er wie elektrisiert. Sein einsames Leben als Witwer war bisher in ruhigen Bahnen verlaufen, denn mit seinen einundachtzig Jahren hatte er sich noch relativ gut gehalten. Er ging nur mit Stock, ohne Rollator, durch die Gegend, fuhr mit dem Auto kürzere Strecken. Und das Gehör funktionierte halbwegs. Erst vor Kurzem hatte er eine Hörhilfe beantragt.
Sein Leben floss in einer geruhsamen Routine dahin. Er war inzwischen nicht mehr traurig über den Verlust seiner Frau, die vor fünf Jahren gestorben war. Jetzt, wo er seinen Haushalt einigermaßen selbst versorgte, mit der Tochter in der Nähe, verspürte er sogar ein gewisses Maß an Freiheit. Niemand versuchte, ihn von seinen Ideen abzubringen oder Verbesserungsvorschläge zu machen. Neulich hatte er in einer gemischten fröhlichen Runde gesagt: „Seitdem ich allein lebe, mache ich komischerweise alles richtig.“ Die Männer hatten alle gelacht, die Frauen weniger.
Und so gingen die Tage gemächlich dahin. Bis gestern.
Seit gestern wurde Ansgars Leben wieder aufregend, denn er hatte etwas entdeckt, und das hing mit dem Neubau gegenüber zusammen.
Das Haus, das in seiner Straße gerade fertig geworden war, hatte ihn schon die ganze Zeit interessiert. Er hatte die Bauabschnitte genau verfolgt und fasziniert zugesehen, wie sich alles allmählich zusammenfügte und perfekter wurde. Fast zu perfekt, dachte er.
Im Vorgarten hatte man Anfang September Rollrasen ausgelegt, zwei Zwergahornbäume gepflanzt, die schon drei Meter hoch waren, Büsche und Sträucher waren dazugekommen. Eine perfekte Rinne aus hellen Kieselsteinen umgab die Grundmauern. Schaukel und Klettergerüst wurden gesetzt.
Das Haus machte den Eindruck, als habe man es in einem Katalog fix und fertig bestellt, und nun wurde es genauso aufgebaut. Makellos.
Was Ansgar erstaunt hatte, waren auch die beiden Männer im Blaumann gewesen, die vorgestern in einem Pickup vorfuhren, einen Rasenmäher ausluden und professionell den Rasen mähten. Dabei gehörte zu der kleinen Familie ein kräftiger Vater, der den lächerlich kleinen Rasen mit Links hätte mähen können.
Vorgestern hatte sich Ansgar nun ein Fernglas besorgt und fast zwei Stunden in seinem Sessel hinter der Wohnzimmergardine verbracht. Dieses perfekt sterile Haus ließ ihn nicht los.
Was ihn neben der Perfektion besonders beschäftigte, waren die beiden Mädchen, die mit der jungen Familie eingezogen waren.
Beide waren blond, ungefähr zwischen acht und zehn Jahre alt und trugen ausgesuchte Kleider, die den Eindruck vermittelten, dass man sie nicht schmutzig machen sollte.
Jeden Morgen um halb acht wurden sie von einem schwarzen Volvo abgeholt, obwohl die Grundschule in Fußentfernung lag.
Seit einer Woche wusste er, dass die Mädchen nicht in die übliche Grundschule gingen, sondern in eine, die weiter entfernt lag, vielleicht in eine Privatschule oder in eine Walddorfschule. Das hatte er von Frau Tondorf im Erdgeschoss erfahren.
Aber das war es nicht, was ihn zum Nachdenken brachte und ihn aufgerüttelt hatte.
Gestern hatte er herausgefunden, dass die Mädchen nicht jeden Tag dieselben waren.
Von Weitem hätte man keinen Unterschied gemerkt. Aber durch das Fernglas hatte Ansgar gesehen, dass die blonden Mädchen von vorgestern und die blonden Mädchen von gestern verschiedene Kinder waren. Die Gesichter unterschieden sich in Kleinigkeiten: andere Lippen, bestimmte Wirbel an den Haaren, eine etwas andere Art zu gehen …
Und Ansgar war deswegen heute pünktlich zurückgekommen, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem der schwarze Volvo vorfuhr und die beiden Mädchen ausstiegen. Immer um halb eins.
Er blickte auf die Uhr. Noch eine Minute. Tatsächlich! Der schwarze Volvo bog um die Ecke und hielt vor dem Musterhaus mit dem Rollrasen.
Die Türen gingen auf, und die Mädchen stiegen mit ihren Taschen aus dem Wagen.
Ansgar saß bewegungslos hinter der Gardine, das Fernglas vor den Augen, und starrte hinüber.
Dann ließ er es sinken.
„Wieder zwei neue Mädchengesichter mit blonden Haaren“, murmelte er. „Insgesamt also schon sechs verschiedene Mädchen.“
Ansgar zuckte