Jede Zelle des Körpers geht aus einer anderen, meist gleichartigen Zelle hervor. Man kann also annehmen, dass die Information über den Zustand des Körpers, in dem die Zellen leben, beim zellulären Schichtwechsel weitergegeben wird. Wie das im Einzelnen passiert, ist noch unbekannt. Einige Zellzählwerke und -uhren sind mittlerweile entdeckt worden. Man weiß aber immer noch nicht, welche molekulare Uhr zu welchem Ereignis, zum Beispiel zur Zählung der Zellteilungen, gehört.
Je älter ein Mensch ist, desto seltener können sich seine Zellen in einer künstlichen Kultur teilen. Gilt diese Regel für alle Zellen? Soweit es Zellen aus einem gesunden Körper sind, lautet die Antwort ja. Wie steht es aber mit Zellen von Menschen, die zu früh altern? Zwei Krankheiten, bei denen eine stark verfrühte Vergreisung eintritt, sind die Progerie und das Werner-Syndrom. Kinder mit Progerie sehen bereits mit neun Jahren aus wie Siebzigjährige, bei Patienten mit dem Werner-Syndrom setzt der körperliche Verfall einschließlich Arterienverkalkung, brüchiger Knochen und eines Hangs zur Zuckerkrankheit etwas später ein. Man hatte ausgerechnet, dass die Zellen in Gewebeteilen eines mit dem Werner-Syndrom geborenen Menschen sich in Kultur höchstens noch etwa zwanzig bis vierzigmal teilen müssten. Hayflicks Kollege S. Goldstein fand diese Frage besonders spannend und machte, wie es in den Naturwissenschaften üblich ist, die Probe aufs Exempel. Die Werner-Zellen teilten sich in Wirklichkeit nur noch höchstens achtzehn mal. Auch in dieser Untersuchung zeigte sich, dass das Altern der Werner-Kinder schneller als erwartet voranschritt. Mittlerweile weiß man mehr über die schlimme Erkrankung, und vielleicht gelingt es dadurch bald, die betroffenen Kinder von ihrem Leid zu erlösen.
Ein tödlicher Überlebenscocktail
Jeder Molekularbiologe oder -mediziner kann heute Wachstumsfaktoren herstellen. Er baut in den Informationsfaden von Bakterien die entsprechende Bauanleitung ein. In einer Flasche vermehren sich die kleinen Lebewesen samt der Zusatzbauanleitung und sondern dabei das gewünschte Lebenselixier ab.
Selbst wenn jeder Schluck dieses Getränks mehrere tausend Euro kostet – wer würde im Angesicht des Todes zögern zuzugreifen? Der Nervenwachstumsfaktor als Allheilmittel gegen den Abbau von Nerven bei der Alzheimerschen Krankheit wäre zweifellos ein Verkaufsschlager.
Leider ist der Cocktail – vorausgesetzt, er wirkt – giftig. Sterbende Zellen oder solche, die ihr Entwicklungsziel erreicht haben, würden sich weiterentwickeln, obwohl dies im Gesamtplan des Körpers nicht vorgesehen ist. Dadurch entstünden zum Beispiel unerwünschte Kontakte zwischen Nervenzellen, die normalerweise nicht zusammengehören. Eine Verbindung vom Sehnerv zum Hörbereich des Gehirns könnte etwa bewirken, dass man Farben hört. Andere falsch gewachsene Nerven können die Muskulatur unnötigerweise anregen. Dauernde Krämpfe wären die Folge. Wie neuere Forschungsergebnisse zeigen, führen falsch ausgeschüttete Wachstumsfaktoren beispielsweise auch zu Rheuma.
Der »Überlebenscocktail« aus Wachstumsfaktoren erfüllt seinen Zweck also nicht, weil die ausgewogenen Wechselwirkungen innerhalb des Körpers durch die willkürliche Zugabe der Überlebensproteine aus dem Gleichgewicht geraten würden.
Anfangs konnte man sich nur schwer vorstellen, dass die Entwicklung einer Zelle von einer so aberwitzig geringen Stoffmenge wie einigen Tropfen Blutserum abhängen sollte. Wie sich später zeigte, entscheiden noch nicht einmal alle Zutaten der Tropfen, sondern nur einzelne Bestandteile aus ihnen über Teilung oder Nichtteilung. Die guten Geister bei der Weiterentwicklung von Gewebekulturen, so stellte sich heraus, waren so genannte Wachstumsfaktoren.
Ihre enge Verknüpfung mit der Zellteilung kommt dadurch zustande, dass sie das Okay für viele Abläufe geben, die vor der eigentlichen Verdoppelung ablaufen. Fehlt ein Wachstumsfaktor als Informationsempfänger und -übermittler, so stockt das Wachstum der Zelle. Dann nützt es auch nichts mehr, wenn die äußeren Bedingungen (etwa das Nahrungsangebot oder Befehle anderer Zellen) eine Zellteilung wünschenswert oder zwingend machen. Wenn die Information mangels Wachstumsfaktor versackt, erfahren die übrigen Zellbestandteile nicht, dass sie nun gefordert sind. So kommt es auch, dass man Zellen in wachstumsfaktorfreier Zellkultur wochenlang halten kann, ohne dass sie sich teilen. Die Zellen finden dann alle Nährstoffe vor und »fühlen sich wohl«, sie können aber nicht an ihre innere Schaltzentrale melden, dass die Gelegenheit für Wachstum und Teilung gekommen ist.
Proteine sind Wachstumsfaktoren; jeder dieser Faktoren wirkt nur auf bestimmte Zelltypen, und jede Zellart benötigt eine genau auf sie abgestimmte Zusammensetzung von Wachstumsfaktoren. Der Körper stellt an festgelegten Orten spezielle Wachstumsfaktoren zu bestimmten Zeiten her. Dort liegen Zelltypen, die für eine Sorte von Wachstumsfaktoren empfänglich sind und sich an dieser Stelle vermehren beziehungsweise verändern sollen. Wie gering der Bedarf an Wachstumsfaktoren tatsächlich ist, zeigt das Zuckerdosenbeispiel: Man wirft einen Zuckerwürfel ins Meer und nimmt an, dass sich der gelöste Zucker auf alle Ozeane der Erde verteilt. Man kann dann aus jedem Meer der Welt eine Tasse Wasser schöpfen und findet darin noch zwei Moleküle des Würfelchens. In dieser Größenordnung liegen auch die Mengen von Wachstumsfaktoren, die vom Körper genutzt werden.6
Eines Tages versuchte man, eine junge Nervenzelle in einem Glasschälchen dazu zu bringen, dass sie sich auf ein Röhrchen ausrichtete. In ihre Nähe tropfte man mit diesem Röhrchen eine winzige Menge eines Wachstumsfaktors für Nerven. Nach einiger Zeit bildete die Zelle einen Fortsatz und reckte sich zum Röhrchen. Zog man das Röhrchen etwas beiseite und tropfte wieder ein wenig Wachstumsfaktor hindurch, folgte der Nerv abermals.
Die Wachstumsfaktoren fördern also nicht nur die Fortentwicklung einer Zelle, sondern die Zelle sucht auch aktiv ihren Wachstumsfaktor auf. Sie folgt einem Weg, der durch einen Überlebensstoff gesteckt ist. Zellausläufer, die keinen Wachstumsfaktor vorfinden, verkümmern.
Multiplizierte Wurmleben
Wenn jede Zelle zu einer festgesetzten Zeit stirbt, sollte auch ein ganzer Körper zu einem vorhersagbaren Zeitpunkt sterben. Bei Menschen ist der Tod einzelner Zellen jedoch schwer festzustellen. Außerdem sind menschliche Zellen während des Lebens zu vielen Einflüssen ausgesetzt, die einen genetisch vorprogrammierten Todestermin verändern können. Stress und Rauchen führen beispielsweise zu einem verfrühten Tod, ein geruhsameres Leben kann den Verschleiß des Körpers hinauszögern.
Es gibt jedoch Lebewesen, die der Beobachtung besser zugänglich sind. Sie erblicken nur für wenige Tage das Licht der Welt. Eines dieser Tiere ist der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Seine Todeszeit ist vorhersagbar.
Die kleinen Würmer kommen auf der ganzen Welt vor. In Blumenerde trifft man sie genauso an wie auf Äckern und Wiesen. Sie sind buchstäblich überall. Da sie nur einen halben Millimeter lang und zudem durchsichtig sind, fallen sie nicht auf. Biologen haben sich die Mühe gemacht, diese Tiere zu züchten und zu ermitteln, wie lange sie leben. Normalerweise sind es einundzwanzig Tage.
Spannend wurde es, als um 1990 C.-elegans-Würmer vollkommen gleichen Aussehens auftauchten, die im Schnitt einen halben Tag länger lebten. Die C.-elegans-Forscher in aller Welt entdeckten weitere Tiere, die nach 33, 25 oder 12,5 Tagen sterben. Der Forscherinstinkt war geweckt, und so suchte man nach der Ursache der veränderten Lebenszeit. Eine noch nicht ausgereifte Erklärungsmöglichkeit besagt, dass eine bestimmte Grundeinheit von Lebenstagen mit einer genetisch festgelegten Zahl, die größer oder kleiner als eins sein kann, multipliziert werden könnte. Woraus die Zellzeitmultiplikatoren bestehen, ist noch ungewiss. Vielleicht liegt das Geheimnis des verlängerten oder verkürzten Lebens in ausgewählten Bereichen der Erbsubstanz, die man »Todesgene« nennen könnte.
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