Heutzutage erfreut sich jedes Schulkind daran, Heu oder Schmutz mit Wasser zu übergießen und nach einigen Tagen die nicht entstandenen, sondern auferstehenden Wesen zu beobachten. Es wundert niemanden, dass Tiere aus dem Heu zum Leben erwachen. Die winzigen Wesen verharren dort getrocknet und eingekapselt in ihrem Ruhestadium und warten nur darauf, dass ein Tropfen Wasser sie aus ihrem Dornröschenschlaf, dem latenten Leben, erweckt. Kaum ist das geschehen, beginnen sie zu fressen und sich fortzupflanzen. Damit haben sie es sehr eilig, denn eine erneute Trockenperiode könnte sie ja schon im nächsten Moment überraschen.
Wir wissen also, dass die einzelligen Tiere aus ihren Ruhekapseln hervorkriechen und nicht aus Wasser und Luft entstehen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind sie direkte Nachkommen von Tieren, die vor vielen hundert Millionen Jahren lebten: Eine Mutterzelle ist gewachsen und hat sich zweigeteilt. Die beiden Töchter haben gefressen, sind groß geworden und haben sich ebenfalls geteilt. Aus den so entstandenen vier Zellen wurden acht und so weiter. Dazwischen gab es durch Trockenheit erzwungene Ruhepausen und echte Katastrophen, die fast alle Nachkommen der Mutterzelle zerstörten. Doch einige Zellen überlebten und vermehrten sich umso schneller.
Diese Vermehrung durch direkte Teilung geht erstaunlich schnell vonstatten. Wenn eine Mutterzelle sich wohl fühlt, bringt sie innerhalb eines Tages mehr Nachkommen hervor, als es Menschen auf der ganzen Erde gibt.
Das ist ein Zustand ewigen Lebens. Obwohl die Mutterzelle als solche nicht mehr existiert, leben Bestandteile von ihr in allen Tochterzellen weiter. Bei Volvox und Hydra verhält es sich ebenso. Warum also pflanzen sich die meisten heutigen Lebewesen nicht mehr auf diese schnelle und praktische Art fort?
Schnelligkeit ist eben nicht der einzige Maßstab bei der Fortpflanzung. Je nach Lebensform beziehungsweise Lebensraum kann es wichtig sein, dass die Nachkommen in der Umwelt, in die sie entlassen werden, gut zurechtkommen. Die Schwierigkeit: Eltern können nicht wissen, wie die Umwelt ihrer Nachkommen aussehen wird. Wesen, die Kopien ihrer selbst herstellen, leben in ihren identischen Nachkommen zwar ewig weiter, es könnte aber sein, dass die gleichförmigen Zelltöchter sich in einer veränderten Umwelt nicht mehr wohl fühlen und krank werden. Schon eine kleine Änderung der Umgebungstemperatur kann den Stoffwechsel der Tiere gründlich durcheinander bringen. (Andererseits überleben kopierte Tiere viele kleinere Umweltschwankungen oft durch extrem hohe Nachkommenzahlen.)
Artensterben und Umweltveränderung
Viele Menschen sind besorgt über das Aussterben von Tierarten als Folge von Umweltveränderungen, wie sie oben beschrieben wurden. Das Artensterben an sich ist jedoch für Biologen nichts Ungewöhnliches. Seit es Leben gibt, verschwinden manche Arten unwiderruflich, während andere neu entstehen. Von allen jemals entstandenen Arten (insgesamt fünf bis fünfzig Milliarden) lebt heute nur noch jede tausendste. Zurzeit nimmt die Geschwindigkeit, mit der Arten aussterben, jedoch vermutlich stark zu: Die derzeit aussterbenden Arten sind an die neuen, oft von Menschen geschaffenen Umweltverhältnisse nicht mehr angepasst.
Ewiger Schlummer
Nicht nur Tiere, auch Pflanzen können in Ruhestadien leben oder schlummern. Pflanzen verkapseln jedoch nur ihre Samen, während einfach gebaute Tiere als Ganzes ins Ruhestadium übergehen können (zum Beispiel Amöben als »Zysten« oder Moostierchen als »Tönnchen«). Die Höchstlebensdauer von Pflanzensamen ist dabei nicht minder erstaunlich als die Überlebensleistungen verkapselter Tiere. So können Nachtkerzensamen länger leben als manche Menschen – sie werden bis zu achtzig Jahre alt. Auch Mais, Zwiebeln, Sellerie und Tabak bringen Samen hervor, die immerhin ein halbes menschliches Leben begleiten können. Die bislang bekannten »Bestleistungen« von Pflanzen, die nach überstandenen Samenruhen wieder erblühten:
Wiesenklee | 100 Jahre |
Kartoffel | 200 Jahre |
Indische Lotosblume | 250 Jahre |
Kriechender Hahnenfuß | 600 Jahre |
Feldspark7 | 1700 Jahre |
Nun übertreffen allerdings die lebenden Pflanzen – in krassem Gegensatz zu lebenden Tieren – ihr eigenes Ruhestadium bei weitem. 400 Jahre alte Kirschbäume, 900 Jahre alte Rotbuchen, 1900 Jahre alte Linden und 4600 Jahre alte Borstenkiefern gibt es wirklich. Die Eiche, deutscher Inbegriff für Knorrigkeit und Beständigkeit, bringt es auf 1300 Jahre. Diese Höchstalter sind natürlich die Ausnahme. Eine »normale« Eiche wird nicht viel älter als 200 bis 300 Jahre und eine gewöhnliche Rotbuche nicht älter als 140 Jahre.8
Pflanzen leben also oft länger als ihre Ruhekapseln. Außerdem kann die lebende Pflanze zahlreiche weitere Keimzellen herstellen, das Ruhestadium nicht.
Auch ein Tier, das sich in sein Ruhegehäuse zurückzieht oder sich komplett in ein solches umbildet, bringt in dieser Zeit keine Nachkommen hervor.
Auch vor unserer Zeit gab es Perioden großer Umweltveränderungen, in deren Folge im Schnitt 65 Prozent aller Arten starben. Eine dieser Katastrophen trat kurz vor der »Kambrischen Explosion« ein. Eine unbekannte Ursache hat damals, auf der Grenze vom Präkambrium (vor sechshundert Millionen Jahren) zum Kambrium (vor etwa fünfhundertsechzig Millionen Jahren), fast das gesamte Leben der Erde ausradiert und eine komplette Lebenswelt, die Biophyten, vernichtet. Die Biophyten, vermutlich weder Pilze noch Pflanzen, noch Tiere, kennen wir nur noch aus präkambrischen Gesteinsabdrücken. Wir sehen in den Fossilien dieser fernen Zeit »Seefedern« oder »scheibenförmige Wurmtiere«, wissen aber nichts über die Biologie dieser Lebensformen.
Mit dem Kambrium verbreiteten sich die Vorläufer der heutigen Lebewesen sehr rasch. Daher die Bezeichnung »Kambrische Explosion«. Ob es zuvor eine wirkliche Explosion auf der Erde gab, die das Massensterben bewirkte, wissen wir nicht. Weitere Massensterben gab es beispielsweise im Mesozoikum vor etwa zweihundertsechzig Millionen Jahren, nach dem Trias vor etwa zweihundertacht Millionen Jahren und während des Übergangs von der Kreidezeit zum Tertiär vor etwa fünfundsechzig Millionen Jahren.
David Raup, Professor für Geophysik an der Universität Chicago, vermutet, dass Meteoriteneinschläge der Grund für diese Katastrophen waren. Im Abstand von etwa sechsundzwanzig Millionen Jahren, so glauben Raup und viele andere Forscher, können erdgeschichtliche Massensterben belegt werden. Als der Physiker Luis Alvarez aus Berkeley im Jahre 1980 erstmals die Idee des Massensterbens durch Meteoriteneinschläge veröffentlichte, glaubte ihm niemand. »Es war«, berichtet Raup, »als hätte jemand behauptet, die Dinosaurier seien von kleinen grünen Männchen aus einem Raumschiff erschossen worden.« Der verblüfften Ablehnung folgte aber rasch eine ernsthafte Diskussion. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass riesige, bis zu hundert Kilometer weite Krater genau aus der Zeit dreier der fünf großen erdgeschichtlichen Massensterben stammen. Vielleicht erweisen sie sich eines Tages als Zeugen der vermuteten Meteoriteneinschläge.
Das Massensterben ist aber nicht nur eine Katastrophe, sondern es hat auch einen biologischen Nutzen. So verficht David Raup in seinem Buch Extinction. Bad Genes or Bad Luck (1991) die Idee, dass die treibende Kraft der Evolution durch stufenweise Anpassung neuer Arten an die Umwelt (adaptive Radiation) nur deswegen möglich war und ist, weil nach Massensterben regelmäßig