»Irgendetwas ist da im Gang«, flüsterte Taylor immer wieder. Seit Stunden turnte er in dem Stollensystem herum, das für Jill so aussah, wie sie sich die Schützengräben des Weltkriegs vorstellte. Er lief zwanzig Meter vor, um dort über den Rand zu spähen, und kletterte an zerborstenen Elastalstahlträgern hinauf, um einen besseren Standpunkt zu gewinnen. Endlich ließ er sich wieder in den Graben hinab und sank schwer atmend neben sie auf den Grund aus zerbröselndem Quarzbeton. Kondenswasser schwitzte von den mannshohen Seitenwänden und sammelte sich in bleifarbenen Pfützen. Beide gaben sie nicht darauf acht, dass sie in einer solchen Lache saßen; die sensoriellen Tloxi-Anzüge hielten die Feuchtigkeit ab. Sie würden im Weitergehen die Selbstreinigungsfunktion aktivieren. In ihrem Inneren war es stets gleichmäßig warm. Dennoch fröstelte Lambert, wenn auch mehr aus Nervosität, Müdigkeit und Furcht. Es war ein Uhr morgens. Sie schmiegte sich an Taylor und legte den Kopf auf seine rechte Schulter. Für einige Minuten verharrten sie so, aneinandergedrängt, schweigend, von der Erschöpfung ausruhend, die dauernde Todesangst in sie eingegraben hatte.
»Wir müssen weiter«, sagte Taylor schließlich. »Wir müssen näher ran.«
Jill hob seufzend den Kopf von seiner Seite. »Wo ran«, fragte sie ergeben.
Der WO war schon aufgesprungen. Er betätigte den Tloxi-Kommunikator, den ihre Gastgeber ihm nach seiner Genesung ausgehändigt hatten. »Weiter nach vorne«, brummte er und winkte mit dem Arm in die Richtung des Grabens. Allerdings brach der Stollen, in dem sie sich befanden, hundert Meter vor ihnen abrupt ab. Sie mussten zurück und einen anderen Weg suchen.
»Mir ist kalt«, jammerte Jill, die ihre roten Hände aneinander rieb und versuchte, sie in die Ärmel des blauen Tloxi-Overalls zurückzuziehen. »Wenn es gefährlich ist, sollten wir lieber sie das machen lassen.«
Taylor betätigte wieder den Kommunikator, einen daumengroßen Taster, der am Revers seiner einteiligen Tloxi-Uniform baumelte. Er gab dem kleinen Trupp, der sie begleitete, zu verstehen, dass er wieder benötigt wurde. Taylor vermutete, dass das Gerät sich dazu einer der Frequenzen bediente, die das Androidenvolk bei seiner kollektiven Telepathie benutzte. Er hoffte, dass sie für die sinesische Polizei nicht zu orten war, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie das zugehen sollte. Wahrscheinlich, überlegte er, gingen die Signale einfach im Weißen Rauschen unter, das von Millionen Tloxi in der riesigen Stadt erzeugt wurde.
Sie schlichen geduckt durch den kaum meterbreiten Stollen zurück und tauchten in die tiefere Finsternis eines aufgelassenen Bunkers ein. Dort ließ Taylor den Handflammer aufleuchten, der auf die geringste Leistung geschaltet war. Im schwachen, neongrauen Licht waren fünf oder sechs Tloxi zu erkennen, die in der Dunkelheit gewartet hatten und sie nun mit der automatenhaften Aufmerksamkeit musterten, die Taylor nicht mehr wahrnahm und an die Jill sich nie gewöhnen würde.
»Wir müssen weiter vor«, sagte Taylor und deutete mit einem Kopfnicken in nördliche Richtung.
Die Tloxi bestätigten wortlos, mit sparsamen Bewegungen, dass sie verstanden hatten. Sie schlugen einen Weg ein, der sie über Treppen, Schächte und freischwebende Leitern aus korrodiertem Onyxstahl zunächst mehrere Stockwerke in die Tiefe führte. Hintereinander gehend, marschierten sie dann durch Stollen, die so schmal waren, dass selbst die schmächtige Jill rechts und links mit den Schultern anstieß. Andere waren so niedrig, dass sie sich nur geduckt weiterbewegen konnten. Immer wieder mussten sie durch kreisrunde Irisschotte kriechen, die mitten im Schließvorgang abgeschaltet worden zu sein schienen, oder sie drückten sich durch oktogonale Schleusen. Mehrere Stunden lang wurde kein Wort gesprochen. Auch die Tloxi schienen nicht miteinander zu kommunizieren. Taylors Kommunikator taugte zwar nicht als Empfänger, er zeigte aber an, ob die rätselhaften Frequenzen – falls es sich um ein elektromagnetisches Verständigungssystem handelte – aktiv waren. Die ganze Nacht hindurch zeigte die entsprechende Anzeige nur ein finsteres und griesgrämiges Schwarz. Nur ihr Keuchen war zu hören, das Schlurfen ihrer Schritte auf dem rauen Untergrund, der meist aus verwittertem Obsidianstahl und Bauquarz bestand, und das Rascheln ihrer Anzüge, die an den Seitenwänden streiften.
Jill hatte Taylor und zwei der Tloxi voraus gelassen. In dem zertrampelten Licht, das zwei stark polarisierte Handflammer um ihre Beine flattern ließen, marschierte und kroch sie vor sich hin. Dabei hing sie ihren Gedanken nach. Sie kehrte immer wieder zu Norton und Jennifer zurück. Vor dem Kommandanten hatte sie Angst. Selbst jetzt dachte sie mit Furcht an ihn. Seine unberechenbare Art, die mal phlegmatisch war, dann wieder zu cholerischen Ausbrüchen neigte, schüchterte sie ein. Obwohl sie seit Jahrzehnten seinem Team angehörte, hatte sie nie gelernt, damit umzugehen. Sie wusste nie, wie sie ihn ansprechen sollte. Manchmal fragte sie sich, wie Major Ash mit diesem unbeherrschten Mann klar kam. Die beiden waren das Traumpaar der MARQUIS DE LAPLACE, auch wenn in den letzten Jahren Gerüchte kursiert waren, dass auch in ihrer Beziehung nicht alles zum besten stand. Unter der Oberfläche von märchenhaftem Erfolg, der sie zum höchstdekorierten Team in der Geschichte der Fliegenden Crew gemacht hatte, schien es auch bei ihnen Krisen und Schattenseiten zu geben. Lambert hatte sich an dem Tratsch darüber nie beteiligt. Sie wollte auch nicht, dass ihr Verhältnis zu dem wesentlich jüngeren und attraktiveren Taylor durchgehechelt wurde, obwohl ihr klar war, dass die Klatschtanten der MARQUIS DE LAPLACE auch darüber längst hergezogen waren. Häme und Schadenfreude waren ihr fremd. Ihr tat es vor allem um Major Ash leid, die von allen Menschen, die sie kannte, derjenige war, vor dem sie den größten Respekt hatte. Und das betraf nicht nur die Pilotin, die zweifellos die begnadetste Offizierin war, die jemals in den Reihen der Union anzutreffen war. Sie mochte Jennifer vor allem wegen ihrer ausgeglichenen und fairen Persönlichkeit. Sie war, das, was man als einen »feinen Menschen« bezeichnete. Nie hätte sie sich dazu hinreißen lassen, verletzend zu werden. Dazu mochte auch ihre Unterweisung in den Riten und Meditationspraktiken des Prana-Bindu-Ordens beitragen. Sie hatte sich vollkommen im Griff, in einer Weise, die Jill beeindruckte und die ihr fast übermenschlich vorkam. Manchmal fragte sie sich, ob eine solche, schon beinahe maschinenhafte Selbstbeherrschung überhaupt erstrebenswert war. Selbst in den ärgsten Stresssituationen verlor sie nie