Immer noch völlig benommen versuchte sich der junge Mann in seinem Trümmergefängnis zu lokalisieren: »Hier ist der Sitz, der Kopf am Dach, in meiner Hand ein Knochen.« Er drehte seinen Kopf nach rechts, um das bereits erdachte Unheil ungeschönt vor Augen geführt zu bekommen. Neben ihm befand sich, gliedlos, seine tote Freundin Monika.
Ein weiteres Zucken fuhr durch Pauses Körper, reflexartig stieß er durch einen gekonnten Tritt mit beiden Beinen auf die Mittelkonsole durch die Heckscheibe. Immer noch erstaunt über diese physikalisch fast unmögliche Aktion, rappelte er sich auf dem nassen Waldboden auf. Verwirrt schaute er sich um. Schwach und benebelt wankte der junge Mann zu dem vor ihm befindlichen Autowrack. Seine Klamotten hingen wie Fetzen von seinem Körper.
»Monika, Moniiiii!«, schrie es aus ihm heraus, als er den leblosen Körper seiner Freundin auf dem Beifahrersitz erkannte. »Was … was hab ich getan?« Erik Pause schlug beide Hände vor dem Kopf zusammen und sank zu Boden. So saß er da. Fassungslos und gemütstaub. Das Bild seiner toten Freundin war nicht mehr aus seinen Gedanken zu bekommen. Immer wieder lief er zu dem Wrack, um sich daraufhin wieder davon abzuwenden.
Planlos ging er einige Meter in den Wald hinein, den Kopf in der Luft, als käme in den nächsten Augenblicken sofortige Hilfe von oben. Erik Pause setzte einen Fuß vor den anderen und langsam merkte er, wie er sein Gleichgewicht wieder zurückbekam.
Er hetzte. Erik Pause rannte durch den Wald, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. In seinem Kopf nur wirre Gedanken. Der Unfall, Monika, der Knochen. Was genau hatte er noch mal gemacht, bevor sie sich überschlugen? Schweiß und Blut rannen von seiner aufgeschürften Stirn und er glaubte, er könne jeden Moment ohnmächtig werden oder einfach vor lauter Druck sterben. Sein Schritt verlangsamte sich. Panik und Angst machten Platz für die urplötzliche Resignation vor dem Leben.
»Was ist da passiert? Das kann doch nicht wahr sein. Ich meine, so etwas passiert doch nur im Fernsehen. Ich … ich … Hallo? Können Sie mir helfen?« Erik Pause nahm ein Geräusch hinter einer Baumgruppe neben sich wahr, was seine Verwirrung nur noch steigerte. »Hallo? Ich brauche Hilfe, dringend Hilfe. Ich hatte einen Unfall. Meine Freundin … Ich …«
Pauses Gestammel rief keine Reaktion hervor. Ruhig näherte er sich den dichten Bäumen, aus deren Richtung er das animalisch klingende Grunzen vernahm. »Wildschweine«, keuchte Pause verängstigt.
Wie paralysiert stand er auf einer Lichtung und wagte es nicht, einen Schritt weiter zu gehen. Wieder hörte er ein Grummeln. Doch dieses Mal war er sich sicher, es nicht mit einem gefährlichen Tier zu tun zu haben. Dazu klang das Gehörte viel zu menschlich. Behutsam ging der zerschundene Mann auf eine Gebüschgruppe zu, die links und rechts von zwei großen Bäumen flankiert wurde. Mit beiden Händen drückte er das Buschwerk zur Seite.
Pause rieb sich mit seiner blutigen Hand über das Gesicht. Er hatte das Gefühl, sich so sein letztes bisschen Verstand zu bewahren, denn was er hinter einer kleinen Baumgruppe zu sehen bekam, ergab für ihn keinen Sinn: Ein paar Meter hinter den Bäumen kam ein kleiner Mann zum Vorschein, welcher gerade damit beschäftigt war, mit einer Axt Holzstücke zu zerschlagen. Er sah auf weite Sicht tatsächlich aus wie ein Kobold mit seinem runzligen, zerfurchten Gesicht und der Körpergröße eines Kindergartenkindes. Pause glaubte kurzzeitig, er sei in einem Märchen angekommen.
»Moment, ich komme gleich«, rief ihm das kleine Wesen zu, ehe er zu einem weiteren Schlag auf das Holz ausholte. Vor Erstaunen musste sich Pause immer wieder die Augen reiben. Warum sollte dieser kleine, alte Mann mitten im Wald Holz hacken? Wie durch einen Dunstfilter nahm er die ganze, sehr seltsame Szenerie wahr. Vergessen waren alle Gedanken an das vorangegangene Unglück. Er fühlte sich wie in einem Traum.
Der kleine Holzhacker drehte sich um, schlug die Axt in einen Spaltklotz und ging auf ihn zu: »Haben Sie Probleme, junger Mann?« Die Stimme des mysteriösen, runzligen Wesens mit der großen Augenklappe über dem rechten Auge klang freundlich und einladend, was nicht so ganz zu seinem gruseligen Äußeren passen wollte. »Ich kann Ihnen helfen, denke ich. Ich habe bisher noch jedem helfen können.«
Erik Pause empfand die Stimme nun als noch intensiver. »Ich hatte einen Unfall. Glaube ich.« Apathisch gab er zu Protokoll, was ihm Minuten vorher widerfahren war.
»Kommen Sie mit. Ich habe ein Telefon. Ich habe Internetanschluss, Sie können alles benutzen. Wenn ich mir das erlauben darf: Sie sehen fürchterlich aus. Ich hoffe, Sie können den Weg nach oben noch alleine gehen. Ich bin leider zu alt und schwach, um Sie stützen zu können.« Der kleine Mann ging voraus. Taumelnd folgte Erik Pause ihm.
Der Weg kam ihm endlos vor. Am Rand nur Steine und noch mehr Wald. Jede Abzweigung, die zu bewohnten Gefilden hätte führen können, wurde von Erik Pauses Führer gemieden. Äste knarrten unter seinen Füßen. Hin und wieder hörte er den kleinen Mann murren, zu einem Gespräch kam es zwischen den beiden allerdings nicht. Zwischendurch suchte Erik Pause, der langsam wieder zu Sinnen kam, nach seinem Smartphone und seinem Pager. Beides fand er, wie üblich, nicht in den Innentaschen seiner zerfetzten Lederjacke. »Wo gehen wir eigentlich hin?« Er versuchte, eine Konversation zu starten.
»Zu mir nach Hause. Das ist leider ein Stück entfernt. Aber gleich sind wir da«, entgegnete ihm der kleine Mann erklärend.
Plötzlich fiel Erik Pause auf, dass sich die Atmosphäre verändert hatte. Er hörte keine Vögel zwitschern und auch keine Bienen summen. Die zuvor verspürte, leichte Wärme wich nun kühler Frischluft. Nun nahm er seine Umgebung wieder deutlicher wahr. Im Vorbeigehen fiel ihm ein Schild auf, welches er allerdings nicht richtig lesen konnte. Zu getrübt war seine Sicht. »Vlaaa … Wladd …«, nein, er konnte es nicht lesen, so sehr er es wollte.
Die kleine Holztür prangte wie ein Fremdkörper am üppigen Anwesen. Ein Neubau, wenn doch an einer sehr ungewöhnlichen Stelle errichtet: einem Hügel. Ringsherum nichts als Wald. Das Licht schien durch enge Wipfelkronen auf das quietschgelbe Haus hinab. Wie ein zauberhafter Schimmer warf es sich darum und ließ die Stimmung wie in einer Herrensauna erscheinen.
Erik Pause und sein kleiner unbekannter Begleiter stapften durch eine überwucherte Wiese direkt auf den Höhepunkt des Hügels zu. Dort angekommen, zückte der kleine Mann alsbald auch einen Schlüssel, der eher wie eine Art Chipkarte aussah, und zog diese schnell durch einen an der Tür befindlichen Schlitz.
Während die beiden durch einen langen Hausflur gingen, präsentierte der Gastgeber die Räumlichkeiten mit einladender Freundlichkeit: »Hereinspaziert! Hier wohne ich.« Der Mann warf seine Holzaxt in die Ecke und ging zugleich zu einem der Fenster, um die heruntergelassenen Rollos hochzuziehen.
Erik Pause schüttelte kurz seinen Kopf und gab dem Helfer zu verstehen, dass er sich wieder einigermaßen dazu in der Lage fühlte, die Situation einzuordnen: »Ich denke nun etwas klarer. Also, was ist das hier? Sie können es mir gern erklären, es wird mich auch nicht überfordern, ich verspreche es.« Erik Pauses Kiefer schmerzte beim Sprechen und doch kamen seine Worte nun um einiges prägnanter aus seinem Mund.
»Brauchen Sie ein Telefon?« Die kleine Gestalt machte nicht einmal den Versuch, auf die Frage des jungen Mannes einzugehen.
»Ja, bitte.«
Pause setzte sich auf einen einzeln herumstehenden Sessel. Er versuchte, seine Umgebung vernünftig wahrzunehmen: der Sessel, auf dem er saß, mehrere Türen, die zu irgendwelchen Räumen führten, und ein Geweih an der Wand. Ein Sechsender. Alles in allem ein ganz normales Wohnzimmer. Wenn auch etwas zu imposant im Vergleich zur doch skurrilen Optik der Außenfassade. So sehr er es auch versuchte, aber der Raum ergab für Erik Pause keinerlei Sinn.
Der kleine Mann schien verschwunden zu sein, daher richtete sich Pause wieder auf und ging zu dem Geweih. Aus dunklen, leblosen Höhlen starrte ihn der Hirsch an. Erschossen, nur um mit dem Kopf an einer Wand als Trophäe zu enden. Ein merkwürdiger Grund, zu sterben.