Friedrich Schwina holte seinen teuersten Kognak aus dem Versteck. Sie stießen auf den gelungenen Coup mit dem Pferdefuhrwerk an.
«Mehr als dreimal dürfen wir das nicht machen», sagte Weißagk. «Dann sind alle kleinen Fuhrunternehmen gewarnt und rufen den nächsten Blauen herbei, wenn ich auftauche.»
Schwina rechnete im Kopf. «Uns fehlen noch mehr als zehntausend Mark.»
«Keine Sorge, ich bin ja jetzt bei Kockanz.»
«Verdient der denn mit seinen beiden Kohlenplätzen so viel?» Schwina war da etwas skeptisch.
«Nein, aber er hat einen reichen Onkel in Koblenz. Leder en gros und en detail. Außerdem gibt es Bares, das der Onkel nicht auf seinem Konto haben durfte. Ich weiß bloß noch nicht, wo Kockanz das versteckt hat. Aber das werde ich schon noch herausbekommen, muss mich nur beeilen, denn er will sich ein Grundstück kaufen, oben in Frohnau.»
Am Montag war der Streik bei Kupfer & Co. ausgerufen worden, aber erstaunlicherweise war es die ganze Woche über in Moabit vergleichsweise ruhig geblieben. Der Zorn der Streikenden und ihrer Sympathisanten auf die Streikbrecher und die Schutzleute, die ihre Kohlenwagen eskortierten, hatte sich lediglich in Schimpfkanonaden entladen, und überall war es bei Drohgebärden geblieben. Die organisierten Arbeiter waren ohnehin diszipliniert, und die Radaubrüder, die Gelegenheiten wie diese gern nutzen, um sich gehörig auszutoben, hatten zwar das Straßenpflaster aufgerissen, nutzten die Steine aber noch nicht, um die Schutzleute damit zu bewerfen. Diese wiederum zogen die Säbel zwar blank, attackierten aber noch niemanden. Die Staatsmacht hielt sich zurück und nahm es ohne große Reaktionen hin, dass die Streikenden Kaufhäuser und kleine Läden zwangen, Plakate ins Schaufenster zu hängen, auf denen groß zu lesen war, dass sie Streikbrecher weder mit Lebensmitteln noch mit Schlafdecken beliefern würden. Der Polizeimajor Klein hatte vorsichtshalber eine Verstärkung des zuständigen und des Nachbarreviers angeordnet, um für alle Fälle Mannschaften zur Stelle zu haben, doch seine Beamten verbrachten ruhige Tage.
Die Lunte mochte glimmen, aber es sah lange Zeit nicht danach aus, dass sie das Pulverfass erreichen würde.
Am Freitag aber spürte jeder, dass etwas in der Luft lag. Es war schwer zu sagen, was die Stimmung der Leute immer mehr anheizte. Bei den organisierten Arbeitern um Gustav Dlugy war es die Ohnmacht dem Kapital gegenüber, die sie immer aggressiver werden ließ. Die Gegenseite zeigte sich so wenig verhandlungs- und kompromissbereit wie am ersten Tag. Was die Arbeiter besonders reizte, war das Gerücht, dass Hugo Stinnes nicht nur Streikbrecher aus Hamburg nach Berlin gebracht, sondern auch beim preußischen Innenministerium interveniert und den Einsatz von tausend Schutzmännern gefordert haben sollte. Aber die Menge, die sich in der Sickingenstraße angesammelt hatte, bestand nicht nur aus sozialdemokratischen Arbeitern und anderen ansonsten sehr gesetzestreuen Bürgern, die nur ihrer Schaulust frönen wollten, sondern auch aus Menschen, die man viele Jahrzehnte später Autonome, Anarchos, Desperados oder Outlaws nennen sollte. In den Zeitungen des Jahres 1910 wurden sie als «Ausständige», als
«Tumultuanten» oder als «Mob» bezeichnet, aber auch mit einem veralteten Begriff als «Janhagel», als Pöbel also, oder schließlich als
«Exzedenten», mithin Menschen, die etwas überschreiten. Dazu kamen einige wirklich Kriminelle. Ob sie alle instinktiv fühlten, dass die alte Ordnung immer morscher wurde und man viel mehr riskieren konnte als noch zwanzig Jahre zuvor, war fraglich, aber es genügte ein kleiner Funke, um den ersten ernsthaften Zusammenstoß zwischen Polizei und Menge auszulösen und dafür zu sorgen, dass die «Moabiter Unruhen» - so sollten sie in die Geschichtsbücher eingehen - begannen.
Ein Milchwagen kam vorüber, und jemand schrie: «Habta schon jehört, det Bolle mit seine Pferde den Stinnes unterstützen tut? Los, wir spannen dem ma die Jäule aus und jagen se uff de Weide!»
«Wat heißt uff de Weide?! Wir machen Hackfleisch aus sie und essen se uff.»
Daraufhin schlug der Kutscher mit seiner Peitsche derart kräftig auf seine beiden Braunen, dass die durchgingen und das Mädchen hinten vom heftig anruckenden Wagen stürzte. Die einen johlten, die anderen hatten Mitleid mit dem armen Ding.
«Det is die Frieda», rief einer und half ihr wieder auf die Beine. «Wat kann die dafür?»
«Is det etwa deine Braut?»
«Nee, aber. .. die is schon jestraft jenuch damit, wie se aussieht.»
Das bezog sich darauf, dass das blau-weiße Kleid des Bollemädchens zerrissen war und sie sich das Gesicht ziemlich aufgeschrammt hatte. Aus Mund und Nase blutete sie. So ließ man sie zum Wagen humpeln und wieder aufsteigen.
Die Menge suchte nach neuer Beute. Sie war wie ein Tier, das plötzlich Blut geleckt hatte. Jeder Einzelne für sich hätte anders gehandelt, nun aber hatte er seine Individualität verloren und war mit den anderen zu einem Ganzen verschmolzen, einem archaischen Wesen, das alle Lust daraus bezog, das vernichten zu wollen, was feindlich, was anders war: die da oben - alle Fürsten und Beamten, alle Konzernherrn und Magnaten, die das Volk kujonierten und aussaugten, und alle ihre Knechte und Lakaien, vom Streikbrecher bis zum Schutzmann.
Und so kam, was kommen musste: Am frühen Abend attackierte man einen Kohlenwagen von Kupfer & Co., um die beiden Streikbrecher vom Kutschbock zu zerren und zu lynchen.
«Schlagt sie tot, die Schweine!»
Doch sofort waren die berittenen Schutzleute dazwischen und zogen blank. Zugleich sah man die Streikbrecher Pistolen hervorholen. Wütend schrie die Menge auf und wich zurück. Für heute schien das reißende Tier gebändigt.
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