«Ich habe mich nicht um die Streik-, sondern um die Einbrecher zu kümmern», erklärte Kappe dem Nachbarn.
«Warum werden denn Menschen zu Einbrechern?», fragte Trampe, um die Antwort gleich selber zu geben. «Weil die Bourgeoisie ihnen nicht das gibt, was nötig ist, um ein glückliches Leben führen zu können.»
«Und darum schießen sie, wenn man sie stört, auf einfache Schutzleute wie mich», entgegnete Kappe.
«Für den Mann, der auf sie geschossen hat, war es sozusagen Notwehr gewesen - er hatte nicht ins Zuchthaus wandern wollen.»
Kappe winkte ab. «Es gibt Grenzen, Trampe, feste Grenzen. Wie heißt es? Du sollst nicht töten. Das gilt auch dann, wenn man bei einem Einbruch erwischt wird.»
«Man kann die Menschen auch ganz anders töten: mit Hungerlöhnen, einer elenden Wohnung, damit, dass man ihnen keine Arbeit gibt. .. Das sind die großen Verbrechen.»
«Ich bin nur für die kleinen Verbrechen zuständig», sagte Kappe.
Damit waren sie vor dem Mietshaus Waldemarstraße 73 angekommen, das etwa zwischen Mariannen- und Lausitzer Platz gelegen war. Kappe mochte die Gegend. In ein paar Minuten war er am Görlitzer Bahnhof und an der Hochbahnstation Oranienstraße. Wurde man krank, lag die Diakonissen-Anstalt Bethanien gleich um die Ecke. Wollte man sich die Füße vertreten, konnte man am Ufer des Luisenstädtischen Kanals und des Engelbeckens lustwandeln. Auch Läden und Kneipen gab es in Hülle und Fülle. Hochnäsig war keiner, der hier wohnte, aber auch richtige Proleten gab es nur wenige.
Natürlich konnte er sich keine eigene Wohnung leisten, sondern war nur Untermieter. Eine Zimmervermittlung am Schlesischen Bahnhof hatte ihn zu Pauline Mucke geschickt. Die hätte es als Witwe eines Verwaltungssekretärs an sich nicht nötig gehabt, eines ihrer beiden Zimmer zu vermieten, doch sie liebte es, einen jungen Herrn zu bemuttern, seit ihre eigenen Söhne ausgezogen waren. «Wenn de Untamieta hast», erklärte sie ihrem Kaffeekränzchen des Öfteren, «denn musste nich erst in’t Theata jehn, da erlebste ooch so jenuch.» Sie war extrem neugierig und schnüffelte gern in den Sachen ihrer Mieter herum. Natürlich nur, um sie an möglichen Torheiten zu hindern. Da sie stundenlang im Hausflur, in den Geschäften und am Straßenrand stand und tratschte, wusste sie über alles Bescheid, was in der Gegend um den Mariannenplatz von Bedeutung war.
«Hamse schon jehört?» Damit eröffnete Pauline Mucke jedes Gespräch. «Hamse schon jehört, Herr Kappe, det die Cholera ausgebrochen is?»
«Wo? Hier am Mariannenplatz?»
«Nee, in Ostpreußen oben.»
«Eher in Westpreußen», korrigierte sie Kappe. In Kalthof am linken Ufer der Nogat, Marienburg gegenüber, hatte es verdächtige Erkrankungen gegeben, aber die Seuchengefahr war inzwischen gebannt. «Darf ich bitte in mein Zimmer. ..» Da ihr Gesprächsbedarf bei weitem noch nicht gedeckt war, verstellte sie ihm den Weg.
«Und das Wetter erst! Im Harz und im Thüringer Wald ham se mächtiget Hochwasser.»
«Na, ehe hier die Waldemarstraße unter Wasser steht, werden noch ein paar Tage vergehen. Außerdem wohnen wir im dritten Stock.» Kappe hatte es endlich geschafft, bis zu seiner Zimmertür vorzudringen. Er drückte sie auf und nickte der Vermieterin noch einmal zu. «Ich darf mich dann empfehlen. ..»
«Jehn Se ma nich zu früh zu Bett, der Herr Trampe sagt, det et in Moabit bald krachen tut - und dann müssen sicha alle Schutzmänna hin.»
Friedrich Schwina litt seit einiger Zeit an einer geheimnisvollen Kehlkopferkrankung und konnte nur noch ganz leise sprechen. So war es kein Wunder, dass ihn in seinen Kreisen wie bei der Polizei alle unter dem Namen Flüster-Fritze kannten. Eigentlich kam er aus dem Wedding, da er aber die meiste Zeit seines Lebens im Moabiter Zellengefängnis verbracht hatte, fühlte er sich eigentlich als Moabiter. Spezialisiert war er auf Diebstähle und Einbrüche, hatte aber auch schon einige Vorstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung aufzuweisen, denn je mehr er getrunken hatte, desto rabiater wurde er. Auch schlug er blindlings zu, wenn er bei einem Einbruch überrascht wurde. Er wohnte in einer Laube zwischen Sickingenstraße und Bahndamm und galt als Sonderling, dem man lieber aus dem Weg ging. Wer an seinem windschiefen Zaun vorbeikam, wurde von einem Schäferhund fürchterlich verbellt. Er hatte dem Tier den Namen Mistvieh gegeben, doch es war das einzige Wesen, das er liebte.
«Mach’s gut, Mistvieh.» Er kraulte und tätschelte das Tier noch einmal, ehe er seine Behausung verließ und sich auf den Weg zur Chausseestraße machte. «Und wünsch mir viel Glück.» Der Hund bellte wie verrückt, und Schwina nahm es als gutes Omen. Er hatte sich da einen Trick ausgedacht, der viel Geld versprach. Leider brauchte er einen Komplizen dazu, denn wegen seiner auffälligen Stimme konnte er bestimmte Sachen nicht mehr selber machen, die Kriminalbeamten hätten ihn sonst gleich erkannt. Das Dumme an einem Komplizen war, dass man mit ihm teilen musste. Andererseits war Alfons für ihn auch mehr als nur ein Komplize. Wie auch immer, Alfons hatte gestern nach einem Kohlen- oder Gemüsehändler suchen müssen, von dem auch kleine Fuhren angenommen wurden, und war in der Lüneburger Straße fündig geworden. «Kommen Sie bitte zum Haus Chausseestraße 98, dort wartet Herr Baurat von Ferbitz auf Sie. Es sind ein paar wertvolle Möbelstücke zu seiner Schwiegermutter zu bringen.»
Aber wer dort wartete, war Friedrich Schwina, hinter einer Litfaßsäule in Deckung gegangen. Pünktlich war der Fuhrwerksbesitzer zur Stelle. Zuerst harrte er der Dinge, die da kommen würden, und hielt oben von seinem Bock Ausschau nach dem Baurat. Die Minuten vergingen. Als ihm die Zeit zu lang geworden war, sprang er auf die Straße hinunter, um sich auf die Suche nach dem Baurat zu begeben. Wahrscheinlich musste der erst herausgeklingelt werden.
Schwina wartete, bis der Fuhrwerksbesitzer einen aus dem Haus kommenden Mieter angesprochen hatte und ihm den Rücken zukehrte, dann kam er hinter der Litfaßsäule hervor und schwang sich auf den Kutschbock. In Sekundenschnelle hatte er sich die Zügel gegriffen. «Hüh!» Mit Pferden umzugehen hatte er schon als Kind gelernt, und der Braune vor dem Wagen setzte sich sofort in Trab. Es ging die Chausseestraße hinunter, als wollte er zum Oranienburger Tor. Aber das war nur eine Finte, um den Fuhrwerksbesitzer zu täuschen, wenn der die Verfolgung aufnahm. Schon an der nächsten Querstraße bog Schwina scharf nach rechts ab, um am Naturhistorischen Museum vorbei zur Scharnhorststraße zu gelangen und den ganzen Komplex von Kasernen und Krankenhäusern zu umfahren. Über die Boyenstraße kam er wieder auf den Straßenzug Chaussee- und Müllerstraße zurück und konnte diesen nun, vor jeder Verfolgung ziemlich sicher, in entgegengesetzter Richtung entlangfahren. Oben an der Müllerstraße hatten Zigeuner ihr Lager, und denen verkaufte er für gutes Geld Pferd und Wagen.
Es war ein guter Tag für Friedrich Schwina, denn wenig später sah er ein Fahrrad, nur so an einen Baum gelehnt, und damit war er bald wieder in seiner Laube zurück. Er küsste das Mistvieh auf die Schnauze. Das brachte immer Glück.
Keine halbe Stunde später stand ein nobel gekleideter junger Mann vor seinem Gartenzaun und begehrte Einlass. «Ich bin’s, Alfons.»
Alfons Weißagk kam aus einer ehrbaren Familie. Sein Vater war Mitinhaber einer kleinen Privatbank und seine Mutter sogar eine «von». Nach fünf Knaben hatte er eigentlich ein Mädchen werden sollen, und von seiner liebenden Mutter war er auch lange Zeit als solches gekleidet und behandelt worden. «Ist er nicht süß - wie ein Mädchen.» Schauspieler und Sänger hatte er werden wollen - und nicht Bankier. Mit siebzehn Jahren war er dann mit einem älteren Mimen durchgebrannt und prompt vom Elternhaus verstoßen worden. Alles, was er nun tat, begriff er als Rache. Eines Tages war es ihm gelungen, ein Blatt aus dem Verbrecheralbum herauszureißen, das Blatt mit seiner Photographie und seiner Vita, und das hatte er seinem Vater zum fünfzigsten Geburtstag nach Hause geschickt. «Mit herzlichen Glückwünschen - zu diesem Sohn.» Die meisten