«Peng! Peng!», machte der Apotheker und zielte mit seinem Zeigefinger, als sei der ein Pistolenlauf, auf den Rektor.
«Seid doch nicht so albern!», schrie der Rektor und schwang einen abgerissenen Zweig wie einen Rohrstock. «Setzen, sonst. ..! Hier wird nicht Tschech gespielt.»
Kappe wandte sich ab. Es war ihm immer peinlich, wenn sich ehrbare Männer wie Kinder benahmen. Wenn die Jungen in Storkow Tschech spielten, ging er immer dazwischen, um das zu unterbinden, aber jetzt. ..? Er empfand das Tschech-Spiel als zutiefst pietätlos. Schön, die Geschichte war inzwischen 66 Jahre her, aber trotzdem. .. Am 26. Juli 1844 hatte der Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech im Hof des Berliner Schlosses ein Pistolenattentat auf Friedrich Wilhelm IV. verübt. Tschech war in Storkow entlassen worden, nachdem er sich mit der herrschenden Clique angelegt hatte, und war in Rage geraten, weil ihm der preußische Staat nirgendwo eine andere Stelle geben wollte. Zwar war der König nur leicht verletzt worden, aber Kappe fürchtete, dass damit für immer und ewig ein Makel auf Storkow liegen würde und seine Karriere erschwerte.
Kappe machte sich auf zur Burgruine. Wenn Gesindel von Berlin herüberkam oder auf dem Weg in die Hauptstadt war, nächtigte es hier besonders gern. Im Halbdunkel trat er auf etwas, das furchtbar schepperte. Er bückte sich und entdecke ein kleines Emailleschild. Als er es zur nächsten Gaslaterne getragen hatte, konnte er es entziffern: Halt! Habe ich auch nichts vergessen?
Alles war schwarz eingerahmt, und auf Höhe der mittleren Zeilen war rechts und links je ein Loch in das Blech gebohrt worden, um es anschrauben zu können. Am Rand erkennbare Ratscher ließen darauf schließen, dass es jemand in der Eisenbahn abgeschraubt und dann verloren hatte. «Menschen gibt’s», murmelte Kappe und steckte das Schild vorn links in seine Brusttasche. Kam er morgen früh am Bahnhof vorbei, konnte er es dem Stationsvorsteher in die Hand drücken.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es klang wie eine kleine Explosion. Er blieb stehen und lauschte. Da war es schon wieder: Plobb, plobb! Komisch. Dem musste er unbedingt nachgehen. Ob da jemand versuchte, einen Verschlag zu öffnen? Nein, Hammerschläge waren es nicht.
Bald sollte Kappe das Rätsel gelöst haben, denn sein Schulfreund Ludwig Latzke kam ihm entgegen, und der hatte einen Fußball dabei, den er beim Laufen in regelmäßigen Abständen vor sich auftippte.
«Unterlassen Sie bitte den ruhestörenden Lärm!», sagte Kappe, und es war nicht ganz klar, wie dienstlich er das meinte.
Latzke schlug den Ball mit dem Spann als Vorlage zu Kappe.
«Los, Kopfball!»
Das ging natürlich nicht - wegen der Pickelhaube. Deshalb fing Kappe den Ball und klemmte ihn unter den Arm. «Hast du jetzt abends noch Fußball gespielt?»
«Nee, ich komme von meinem Cousin in Schauen. Dem hab ich geholfen, sein Haus zu streichen.» Latzke war Maler. «Und als Lohn dafür hat er mir ’n Fußball geschenkt.»
«Schönes Leder.» Kappe warf den Ball zurück. Während seiner Dienstzeit in Berlin hatte er beim FC Germania 88 Fußball gespielt. Dort wurden Ordnung und vaterländische Gesinnung großgeschrieben, für seinen Geschmack etwas zu groß. Jeder Torerfolg wurde mit Hochrufen auf den Kaiser gefeiert, und wer zu spät zum Spiel kam, hatte zehn Pfennig Strafe zu zahlen. Fehlte er ganz, erhöhte sich die Strafe auf 25 Pfennig. Als Ludwig Latzke in Berlin vorübergehend auf dem Bau gearbeitet hatte, war auch er zu Germania gestoßen, und so sangen sie jetzt: «Heil dir, Heil, Germania! Mög es lange noch ertönen: Stoßet zu - hurra, hurra!» In einem Haus ging ein Fenster auf. «Ruhe da unten, sonst hole ich den Schutzmann!»
Kappe machte, dass er weiterkam. Ein Blick war auf alle Fälle noch auf die Badestelle zu werfen, ob da auch nichts Unsittliches getrieben wurde, und ein weiterer auf die Villen Richtung Karlslust und Hubertushöhe, denn wenn es für Einbrecher etwas zu holen gab, dann dort.
Da, wo der Große Storkower See von zwei Landzungen eingeschnürt wurde, hatte sich der Major Ferdinand von Vielitz nach seinem Abschied vom Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment in Berlin am südwestlichen Ufer ein Landhaus errichten lassen. Da er des Öfteren im Ausland weilte, hatte er Kappe gebeten, immer mal wieder ein Auge auf sein Anwesen zu werfen. Zwar verfügte er über eine Köchin und ein Faktotum, aber die waren alt und hörten schwer, und wenn sie sich in ihre Kammern verkrochen hatten, konnte man das ganze Haus ausräumen, ohne dass sie es bemerkten. Kappe ging aber auch gern zu dem Alten, um mit ihm zu plaudern, und Vielitz füllte bei ihm so etwas wie die Rolle eines Großvaters aus, oder nein - mehr die eines geistigen Ziehvaters.
Kappe verließ die schmale Straße, um direkt am Ufer entlangzugehen und sich dem Vielitzschen Grundstück von der Seeseite her zu nähern. Nun gab es in der Mark Brandenburg zwar keine Mittsommernacht wie oben in Schweden, aber stockfinster war es dennoch nicht, und er kannte jeden Meter Weg so gut, dass er nicht ein einziges Mal stolperte.
Schaurig hallten die Rufe eines Käuzchens über den See. Der Tod war dabei, jemanden zu holen. .. Kappe blieb unwillkürlich stehen, um zu lauschen. Hinter ihm knackten die Zweige. Neben ihm raschelte es im Unterholz. Fast schien es ihm so, als würde ihn jemand verfolgen. Aber wer? Und warum? Aus den unergründlichen Wassern des Sees schien jeden Augenblick ein Hakenmann aufzutauchen, um sich auf ihn zu stürzen und ihn in die Tiefe zu ziehen. Kappes Vater war Fischer und glaubte, dass auf dem Grunde der märkischen Seen Nix und Hakenmann zu Hause waren, die dafür sorgten, dass immer wieder Menschen ertranken. «Wir stehlen ihnen die Fische - und das ist ihre Rache.»
Hermann Kappe hielt das für ausgemachten Unsinn, aber ein bisschen bänglich war ihm doch. Gegen seine Natur kam niemand an. Wie immer, wenn er sich selber vorwarf, ein feiger Hund zu sein, versuchte er es mit dem Trick, an Old Shatterhand zu denken. Ein Großcousin aus Köpenick hatte ihm einige zerfledderte Karl-May-Bände mit nach Wendisch Rietz gebracht, und Kappe hatte sie Seite für Seite mit heißem Herzen verschlungen. Ein Junge brauchte nicht viel Phantasie zu haben, um die Gegend um den Storkower und den Scharmützelsee für den Wilden Westen zu halten. Kappe musste unwillkürlich schmunzeln, denn kam er Vielitz mit Old Shatterhand, Winnetou, Old Firehand und Sam Hawkens, dann geriet der in Rage, weil ein Sohn Brandenburg-Preußens seiner Ansicht nach andere Idole haben sollte, zum Beispiel die Generale Seydlitz, Ziethen und Blücher. «Aber du bist ja noch jung, und was nicht ist, kann ja noch werden.» Ohne die Fürsprache des Majors wäre er in seinem Alter nie und nimmer Schutzmann in Storkow geworden.
Hermann Kappe war in Wendisch Rietz am 2. Februar 1888, im Dreikaiserjahr, auf die Welt gekommen. Der Familienname wurde vom örtlichen Pfarrer auf das spätlateinische cappa zurückgeführt, die krempenlose Kopfbedeckung, während sein Vater meinte, die Urahnen hätten an der Oberhavel gesessen, wo knapp östlich von Zehdenick das Dörfchen Kappe lag.
Während Kappe dies alles durch den Kopf ging, hatte er sich der Vielitzschen Villa auf etwa hundert Schritt genähert. Im «Salon Seeblick», wie der Major das größte seiner vielen Zimmer getauft hatte, brannte helles Licht. Also war dieser zu Hause und hatte Besuch. Aber die Büsche waren so dicht, dass sie es Kappe zunächst verwehrten, über die Terrasse hinweg einen Blick in den Salon zu werfen. Er musste weiter vordringen und sie zur Seite schieben. Denn er war ein viel zu neugieriger Mensch, als dass er der Versuchung nicht erlegen wäre, sich näher heranzuschleichen. Ein bisschen kam er sich vor wie ein Voyeur, aber dass Vielitz Damenbesuch hatte, war kaum anzunehmen. Oder doch? Es hieß, er solle es früher toll getrieben haben. Nein, was Kappe da hörte, waren ausschließlich Männerstimmen. Zwei. Der Brummbass des alten Haudegens war unverwechselbar, die andere Stimme war Kappe fremd.
Endlich war er weit genug heran. Vorsichtig teilte er die Büsche mit den Händen. Als er sich freie Sicht auf Terrasse und Salon verschafft hatte, traf ihn fast der Schlag: Von Vielitz stand mit erhobenen Händen vor seinem Kamin, in Schach gehalten von einem Einbrecher in schwarzem Anzug. Dessen Pistole war drohend auf die Brust des Majors gerichtet.
«Her mit den Schlüsseln zu Ihrem Tresor! Wird’s bald!», rief der Eindringling.
«Ich habe keinen Tresor», antwortete von Vielitz.
«Möchten Sie, dass ich Sie über den Haufen schieße?!»
«Möchten