Wohin führt uns der Wagenlenker? Das Visier seines Helms ist heruntergeklappt, denn kein Mensch darf sein Gesicht sehen und weiterleben. Das zentrale und bedeutsamste Merkmal dieser Karte befindet sich in ihrem Zentrum – der Heilige Gral.3 Damit bringt Crowley seinen Helden mit dem Mythos der Gralsritter in Verbindung, die die Menschen, von denen sie gerufen werden, sofort verlassen müssen, wenn sie ihnen die verbotene Frage nach ihrer Herkunft stellen. Andererseits muss Parzival unerlöst in der Welt herumziehen, weil er es versäumt hat, die richtige Frage zur rechten Zeit zu formulieren. Ähnlich wie der Held der Artussage muss unser Wagenlenker vor seiner Siegesfahrt nun warten und erst meditieren, um die richtige Frage zu stellen bzw. die richtige Antwort zu finden, kurz: um das richtige Ziel zu »beabsichtigen«.4 Es geht aber nicht darum, Fragen zu stellen oder Antworten zu finden, sondern die richtige Haltung auf dem Wagen einzunehmen, damit sich die Sphingen in Bewegung setzen und die stehenden, roten (Schicksals-)Räder in Schwung bringen. Zwei der vier Wesen haben sich vom Leben abgewandt und blockieren den Weg. Das bedeutet, dass es in der Erinnerung des Helden noch etwas zu lösen gibt, das seine Weiterentwicklung behindert. Die beiden anderen Gestalten verkörpern die helle, dem Leben zugewandte Seite (sie blicken dem Betrachter direkt in die Augen), und der Umstand, dass die Köpfe und Körper aller vier untereinander vertauscht sind, bedeutet, dass sie doch untrennbar zusammengehören, denn es ist die notwendige Versöhnung dieser beiden Teile, die den Weg des Helden ausmacht.5 Der Krebs als Symbol intuitiver Weiblichkeit schließlich krönt das Haupt und ist ein schönes Gleichnis für die spirituelle Erkenntnis, dass Menschen ihre tiefsten Einsichten immer dann haben und Entscheidungen treffen, wenn sie am wenigsten daran denken. Deshalb steht der Wagen auch für den unbewussten Willen, den nächsten Schritt des Weges zu wagen, ohne sich über die Folgen im Kopf bewusst zu sein.
Weiterführende Bemerkungen
1 Der Wagen repräsentiert den von 3 Binah (Große Mutter) zu 5 Geburah (Umwälzung) führenden Pfad. Auf diese Weise korrespondiert der Wagen mit dem Hierophanten, der auf der gegenüberliegenden Seite des Lebensbaums das Feuer von 2 Chokmah (Energie) nach 4 Chesed (Verdichtung) leitet. Chokmah ist die bewusste, unterscheidende und männliche Kraft. Sie entspricht der Rippe Adams, aus der Gott Eva oder Binah schuf. Chesed symbolisiert die in den Raum austreibende Form, während Geburah für die Umwälzung steht. Wenn wir wissen, dass die waagrechte Achse zwischen Chokmah und Binah den männlichen Geist mit der Himmelsgöttin vereint, dann können wir sehen, dass der Hierophant die universale Kraft des Geistes zu verdichten sucht (von 2 nach 4), während der Wagen das Leben durch Bewegung und Umwälzung zu verändern strebt (von 3 nach 5).
Fassen wir zusammen: Der junge Held ist auf dem Lebensbaum die Spiegelung des alten Priesters, da sich diese beiden Karten exakt gegenüberliegen. Der Hierophant lässt seine schöpferische Vision von Chokmah nach Chesed strömen, während der Wagen die feurige Libido von Binah nach Geburah bringt. Gemeinsam mit Tiphareth und Kether bilden diese vier Punkte Crowleys heiliges Hexagramm. Er notiert: Stoße von der Höhe herab, O Gott, und verbinde Dich mit dem Menschen. Stoße von der Höhe herab, O Mensch, und verbinde Dich mit dem Tier. Das Rote Dreieck ist die herabsteigende Zunge der Gnade; das Blaue Dreieck ist der aufsteigende Zug des Gebets.4
2 Crowley schreibt: Das zentrale und bedeutsamste Merkmal dieser Karte befindet sich in ihrem Zentrum – der Heilige Gral. Er ist aus reinem Amethyst, der Farbe des Jupiters; doch seine Gestalt weist auf den Vollmond und den Großen See von Binah hin. In seiner Mitte ist strahlendes Blut und weist auf das geistige Leben hin; das Licht in der Dunkelheit. Ferner sind diese Strahlen in drehender Bewegung und betonen das Jupiter-Element im Symbol.5
Das Zentrum der Kreise, der rote Punkt in der Mitte der Karte, ist gleichzeitig Zentrum des ganzen Bildes sowie Zentrum des Grals, und was an eine Scheibe erinnert, die der Wagenlenker in Händen hält, ist der mit der Innenseite dem Beobachter zugewandte Kelch, in dessen Tiefe sich die alchemistische Substanz wie ein Flammenrad dreht.
3 Crowley erläutert das so: Der Ritter der Kelche ist in eine schwarze Rüstung gekleidet, die mit schimmernden Flügeln versehen ist. In seiner rechten Hand hält er einen Kelch, aus dem ein Krebs hervortritt, das kardinale Zeichen des Wassers, ein Symbol der Angriffslust.6 Beide Karten haben also nicht nur den Gral gemein, sondern auch den Krebs, Symbol für das weibliche Wissen, der beim Wagen in der geistigen Absicht (goldener Helm = Scheitelchakra) liegt und beim Ritter als emotionales Ziel, das er in der eigenen Hand vor sich herträgt, existiert. Unterschwellig besitzt der Gral aber auch eine (verdrängte) sexuelle Note. Die Mythen um Parzival und den Heiligen Gral hängen tiefenpsychologisch mit der Überwindung sexueller Verstrickungen aus unaufgearbeiteten Mutterbindungen zusammen (Amfortas Wunde durch Klingsors Schwert symbolisiert die sexuelle Verführung durch Kundry). Bei Wolfram von Eschenbach können wir das Umschiffen dieser Klippe entweder durch Verzicht und Entsagung oder dann wenigstens durch Annahme der Schuld und Hinnahme des Schicksals nachlesen: Die aber des Grales Waffen tragen, die müssen Frauenlieb entsagen7. Auf seine alles entscheidende Frage: Wem dient der Gral? erhält Parzival die Antwort: Der Gral dient Gott! So ist er ein Symbol der ewigen Kraft, die uns durchfließt, die Suche nach dem (höheren) Selbst. Wer sich also auch dem dunklen Aspekt des Ewigweiblichen zu nähern sucht, um den dahinter liegenden Gral zu erreichen, muss rein und unschuldig in der Seele sein. Kundry, die Parzival auf der Schwelle zwischen Schuld und Erlösung erscheint, ist die Ahnin, die die Geheimnisse seelischer Innenräume berührt und die Tiefenbilder alter (Kastrations-)Ängste in der kollektiven Seele auslöst, die aus dem Brunnen der Mütter steigen, in den schon Faust hinabgestiegen ist, um den Ungeheuern zu begegnen: den Schattenanteilen des verdrängten Weiblichen, das gleichzeitig die Basis allen Lebens ist.
Crowley fährt fort: Wenn diese Karte (Ritter der Kelche) schlecht aspektiert oder gestellt ist, verwandelt sich sein Charakter ins Sinnliche, Wollüstige, Eitle, Träge und Unwahrhaftige. Er neigt zu einer schlechten Handhabung all seiner Angelegenheiten; und sein Leben wird eine ununterbrochene Aufzeichnung von Fehlschlägen und Unglücksfällen sein. Oft endet er in Schizophrenie und melancholischem Wahnsinn.8 Denken wir an Ödipus, eine andere Verkörperung der Verbindung dieser beiden die Vermählung zwischen den Gegensätzen Feuer und Wasser fördernden Karten. Erst gerät er in Streit mit dem Lenker eines Wagens, der ihm nicht schnell genug ausweichen kann, und tötet ihn, ohne zu wissen, dass es sein Vater ist. Später begegnet er vor den Toren Thebens der Sphinx, einem geflügelten Ungeheuer, halb Jungfrau und halb Löwe, die jedem Reisenden ein Rätsel aufgibt und ihn auf der Stelle zerreißt, wenn er es nicht zu lösen vermag. Ödipus vermag den dunklen Sinn zu entschlüsseln, und die Sphinx stürzt sich von ihrem Felsen in die Tiefe. Zum Dank für die Befreiung der Stadt bekommt er die verwitwete Königin zur Frau und damit seine eigene Mutter, die ihm vier Kinder gebärt. Erst als Ödipus die Wahrheit entdeckt und sich die Augen aussticht, wird er zum (inneren) Seher und wandert erlöst über die Schwelle ins unbekannte Land hinaus, das den normalen Blicken verschlossen bleibt. Das symbolisiert der Gral, den der Wagenlenker in Händen hält.