An den oberen Rändern des Bildes finden wir zwei nackte Frauengestalten, die die ursprüngliche und die gedrosselte Libido andeuten: Die wilde Lilith und die gezähmte Eva. Eva verkörpert die weibliche Hingabe und Sehnsucht nach Vereinigung bei gleichzeitiger christlicher Unterwerfung, Lilith den diesem Zustand entgegengesetzten Faktor der Frustration aus emotionalen Verletzungen und des seelischen Schmerzes bei gleichzeitiger sexueller Freiheit. Das verdoppelnde Zwillingsmotiv wird auch im Brautpaar, den Kindern und den Tieren illustriert. Die beiden Kinder stehen für den Narren und den Magus, das Brautpaar für Kaiser und Kaiserin und der Priester und das Ei schließlich für den Hierophanten und die Hohepriesterin. Auf dieser Karte treten die Figuren zum ersten Mal in Paaren auf, während die vorhergehenden Trümpfe (0 – V) auf einzelne Personen ausgerichtet waren. Man könnte jetzt glauben, dass die Bedeutung der Liebenden darin läge, die Vereinigung der (zuvor geschiedenen) Gegensätze zu symbolisieren. Aber weit gefehlt – so weit sind wir noch lange nicht. Grundsätzlich bedürfen Gegensätze schon einer Erklärung, denn sie sind ja nicht so ohne weiteres in den Raum gestellt; sie mussten sich durch jahrtausendelange Differenzierung erst mühsam entwickeln. Die griechische Überlieferung spricht von einer hermaphroditischen Kugel, die O und P paradiesisch in sich vereinigte, bis sie von den neidischen Schöpfern in zwei Hälften geteilt wurde, die seither, ohne sich je wieder miteinander verbinden zu können, ständig auf der Suche nacheinander sind.
Auf der Karte wird dieser Umstand dadurch illustriert, dass die Vertreter der Liebenden in heller und dunkler Hautfarbe dargestellt sind. In der Mitte sehen wir den schwarzen König, der sich mit der weißen Königin vereint. Beide sind in herrschaftliche Gewänder gehüllt. Die Kleider des Bräutigams korrespondieren mit dem Kaiser (Schlangenmuster), die der Braut mit der Kaiserin (Bienenmuster), ein verbindendes Symbol, das darauf hinweist, dass das Suchbild des die Seele »ergänzenden« Menschen im Spiegelbild des Partners verankert werden will. Sie reichen sich die Hände und sind bereit und willens, sich zu vereinen.2 Andererseits ist es so, dass die Körper der beiden Liebenden mitsamt den Armen zur Ausrichtung der Köpfe etwas verdreht erscheinen. Die Leiber stehen sich gegenüber, aber die Köpfe sind zur Seite gegen eine riesige, mit einer Kutte und einer Kapuze gewandete Gestalt gedreht, so als wollten sie uns sagen, dass sie weniger den Partner, sondern mehr das Bild des anderen im Visier haben, das ihnen das mächtige Unbewusste suggeriert. Denn nur dieses weiß, dass die normale Liebe nicht wirklich befriedigen kann. Der weise Begleiter steht in ganz realem Sinne auch als Vermittler zwischen Bewusstem und Unbewusstem, für das Motiv der Verwandlung und Erlösung jenseits von Gut und Böse. Nur die mystische Vereinigung, die heilige Hochzeit, trägt die Voraussetzung in sich, die Menschen über sich hinaus- und damit ins Liebesparadies zu führen.3
Das bedeutet, in der Karte drückt sich die Anziehung der Gegensätze aus oder das Verlangen nach einem ergänzenden Partner, der uns die verlorene Einheit wiederbringen und uns zur Ganzheit zurückführen soll. Das bedeutet aber auch, dass wir – wenn wir erkennen, dass die innere Unvollständigkeit immer dazu neigt, sich mit den übertragenen Bildern aufzufüllen – zu tiefen, uns selbst überwältigenden Erfahrungen gelangen können. Die Wechselständigkeit oder Über-Kreuz-Verbindung der beiden Protagonisten (schwarzer König mit Goldkrone, Silberstab und weißem Knaben, weiße Königin mit Silberkrone, goldener Schale und schwarzem Buben) ist ein Zeichen für das Aussöhnen von Konflikten und die Vereinigung von Gegensätzen, da das Königspaar die bewussten Kräfte, die Kinder jedoch die unbewussten Energien ausdrücken.4 Interessant ist auch: Die unbewussten Kräfte in den Kindern (versinnbildlicht durch Keule und Rosen) reichen sich im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht die Hände, sondern sie verbinden sich über die bewusste Vereinigung des Königpaars, und erst durch die vierfache Vereinigung in der Hochzeit (Mann und Frau, Mann und Anima, Frau und Animus, Anima und Animus) geschieht die alchemistische Verwandlung, die durch das Orphische Ei mit der Schlange angezeigt wird. Dieses Ei repräsentiert die Essenz aller Lebensformen, die Grundlage der heiligen Hochzeit und dient wiederum als Zeichen für den Zugang zur Ganzheit durch Vereinigung der Gegensätze. Vielleicht versteht Crowley darunter nicht die ursprüngliche Einheit der unbewussten Natur, sondern die differenzierte Einheit, die auf den römischen Dichter Ovid zurückgeht, zu der die beiden Hälften, die zuerst getrennt wurden, als der Mensch sich durch sein Bewusstsein von den Tieren zu unterscheiden begann, nach langer und schwieriger Suche nach dem jeweils anderen Teil in der menschlichen Psyche gelangen. Darin verbinden sich die Polaritäten der Geschlechter zu einer einzigen Gestalt, und das entspricht auf der geistigen Ebene dem Transzendieren der Gegensätze der Erscheinungswelt. Das heißt: Jeder der beiden gegengeschlechtlichen Aspekte des Paars, die der Partner als Animus oder Anima reflektiert, entbrennt in einer Liebesflamme zum anderen, die genauso heftig ist wie das Bedürfnis, selbst mit diesem Aspekt (in sich) in Verbindung zu treten.3
Der rote Löwe und der weiße Adler stehen für die bewussten männlichen und weiblichen Sexualkräfte, Symbole des männlichen und weiblichen Dualitätsprinzips wie Sonne und Mond, Feuer und Wasser oder Luft und Erde. Crowley bringt sie mit der Alchemie in Verbindung: Sie treten in der Chemie als Säure und Lauge in Erscheinung. In dieser Erscheinungsform repräsentiert die verhüllte Gestalt das Proteische Element des Kohlestoffs, dem Ursprung allen organischen Lebens.4 Im Verlauf der alchemistischen Operation werden sie sich in Farbe und Bewegungsausdruck aber noch entscheidend verändern, und in der Karte Kunst sind sie auch nicht mehr so statisch, sondern in Haltung und Gebärde ziemlich aktiv: Der rote Löwe ist dann weiß geworden und der weiße Adler rot. Darin liegt auch V.I. T.R.I.O.L. verborgen – die Formel zur Öffnung des Orphischen Eis.5 Ein versteckter Hinweis findet sich auch im letzten Detail. Das Gewölbe des sakralen Raumes, in dem die Hochzeit stattfindet, wird von Schwertern dargestellt. Der Meister verweist auf den hebräischen Buchstaben & Zajin, der Schwert bedeutet, und mit jedem Akt der Teilung – aus Eins mach Zwei – in Beziehung steht, denn Liebende sind im Tarot wie im tatsächlichen Leben immer zu zweit: Zwei, die sich entschieden haben, ihre persönliche Identität einer verbindenden Zweisamkeit zu opfern, nachdem sie von Cupidos Pfeil 5 getroffen wurden.
Weiterführende Bemerkungen
1 Denn ich bin geteilt um der Liebe willen, für die Möglichkeit der Vereinigung (Liber Legis I/29). Ich bin das Nicht-Eine, denn alles, was ich bin, ist das unvollkommene Abbild des Vollkommenen; jede besondere Erscheinung muss in der Umarmung ihres Gegenstückes verschwinden, jede Form sich erfüllen, indem sie ihren ausgeglichenen Gegensatz findet und ihr Bedürfnis, das Absolute zu sein, dadurch befriedigt, dass sie zur Vernichtung kommt.
Liber V vel Reguli
2 Auf der Schattenebene kann das manchmal zu einer Abhängigkeit von unseren inneren Projektionen führen, wenn sie uns im Spiegel äußerer Personen im Leben begegnen. Oft stürzen wir uns Hals über Kopf in die Gewässer der Sehnsucht nach der sexuellen Vereinigung und landen im unbefriedigenden Seelenfeuer, wenn wir das verlorene Gefühl der Einheit durch die Verschmelzung mit dem Partner zu erzwingen suchen. Das Gefühl der Liebe kann aber auch auf geistiger Ebene stattfinden. Wenn die beiden Liebenden die Weisheit im Höheren suchen, um den essenziellen Gehalt ihrer Liebe zu finden, versuchen sie sich an die Frequenz ihrer geistigen Sehnsucht heranzuziehen und in die Sphäre des anderen einzudringen, um beide Polaritäten, Geist und Liebe, miteinander zu verbinden.
Somit können wir Crowley, wenn er schreibt Um die Arme des Eremiten liegt eine Rolle, die das Wort, den Logos oder die Gesetze darstellt, die die geistige Welt zusammenhalten, die wir uns selbst geschaffen haben6, erwidern,
dass die Liebe auch eine Energie darstellt, die in die eigene Triebstruktur eingerollt ist und gleichzeitig in die Sphäre des anderen eingreift, indem sie das Bild der Anziehung im Pol des Angezogenen zu verankern sucht.