Die geheimnisvolle Erscheinung mit dem sphärischen Schleier atmet aber auch das silberne Licht des Mondes ein und aus. Interessanterweise unterstellt ihr Crowley das alchemistische Element und Prinzip des Merkurs: Er ist die fluidische Grundlage aller Übertragungen der Tätigkeit, so schreibt er, und in der dynamischen Theorie des Universums ist er selbst dessen Substanz.2 Damit bezieht sich Crowley wohl mehr auf den unbewussten Seelenführer, den Psychopompos: Merkur ist der von Kether zu Binah – dem Verstehen – führende Pfad; und daher ist er der Botschafter der Götter, er repräsentiert genauestens den Lingam, das Wort der Schöpfung, dessen Sprache das Schweigen ist.2 Letztlich können wir das Heiligtum der Göttin nur kraft unserer Träume und Visionen betreten, denn ihr Mysterium kann nicht durch die Führung des Verstandes, sondern nur im mutigen Eintauchen in die unergründlichsten inneren Seelenebenen erreicht werden. Das zeigt uns der Bogen auf ihrem Schoß, die Waffe der Diana. Er ist nicht gespannt. Das bedeutet, das Ziel, das wir ansteuern, wird durch Kontemplation und zielgerichtete Versenkung erreicht, nicht durch äußere Aktivität und Hektik. Auch der obere Teil des Lichtschleiers, den sie zwischen ihren Händen geöffnet hält, ist ein Symbol für die Erlebniswelt der Seele, die dem Reisenden offen steht. Wenn das Maschennetz mehr die oberflächlichen Ziele der Seele repräsentiert, dann zeigt die halbkreisförmige Öffnung das Tor, durch das man in die eigene Illusion eintreten und sich damit mit dem Fluidum oder dem Geist hinter dem Bild der Hohepriesterin identifizieren kann.3 Denn das Licht, welches das mit einem nach oben geöffneten Lichtstrahlenkranz gekrönte Haupt der Göttin umhüllt, ist nicht nur eine Manifestation des ewigen Geistes, sondern auch ein schützender Filter, in dem sich nur die eigenen Erwartungen reflektieren. Auch das Unendlichkeitszeichen (Lemniskate = liegende Acht), das sie wie eine Brille vor ihren Augen trägt, ist mehr ein Spiegel für den Blick des Betrachters, denn wenn der Mensch der Göttin wirklich in die Augen sehen könnte, dann müsste er erblinden. Aus der Sicht des Beobachters steht die Lemniskate für die Beschreibung der Welt, die sich je nach Verschiebung des Fokus verändert, durch dessen Linse er die Karte betrachtet. Deshalb ist alles, was er in ihr sieht, nicht die Priesterin, sondern die Projektion seiner eigenen Vorstellung, der Göttin hinter dem Schleier begegnen zu wollen. Damit assoziiert sie sich mit jener illusionsschaffenden Energie, Maya genannt, die über die innere Gestaltungskraft verfügt, um sich in allen Bildvorstellungen zu inkarnieren, und schenkt ihm das intuitive Empfinden, dass alles, was er wahrnehmen kann, letztlich nur ein unbedeutender Bruchteil jener Träume ist, die für Kaiser oder Hohepriester unentwirrbar bleiben müssen, damit sie sich in ihrem Zwang nach Kontrolle nicht frustrieren.
Die um den unteren Bildrand gruppierten Symbole (Früchte, Blumen, Samenschoten) liegen vor dem Schleier der Isis und sind daher als in Erscheinung tretende Dinge schon manifestiert. Sie zeigen das innere Wachsen und Reifen der Seele, in der alle kollektiven Erlebnisse gespeichert sind, die »zukünftige« Vergangenheit oder die kommende Erahnung, die sich beispielsweise auch in Trümpfen wie Glück, Stern, Mond oder Æon niederschlagen. Dabei ist die Hohe Priesterin das kollektive Assoziationsmuster in der Tiefe der Seele, das mysteriöse Sehnen, unbewusste Erinnerungen ins Licht unseres Bewusstseins zu heben. Das Kamel, das am unteren Bildrand schreitet, ist eine Erinnerung an den hebräischen Buchstaben Gimel (Kamel), ein Verbindungsglied zwischen der geistigen Welt (Kether) und der Welt der realen Formen (Tiphareth). Dieser Pfad liegt in der Mitte des Lebensbaumes und wird von den Eingeweihten der Durchgang in die Stadt der Pyramiden genannt:
Im Wind des Geistes entsteht die Turbulenz namens Ich.
Sie zerbirst; hinab regnen die unfruchtbaren Gedanken.
Alles Leben ist erstickt.
Diese Wüstenei ist der Abyssos, darin das Universum ist.
Die Sterne sind nur Disteln in dieser Einöde.
Und doch ist diese Wüstenei nur ein verfluchter Ort
in einer Welt der Glückseligkeit.
Ab und an durchqueren Reisende die Wüste; sie kommen vom
Großen Meer und zum Großen Meer wandern sie auch.
Beim Gehen vergießen sie Wasser; eines Tages werden
sie die Wüste bewässert haben, bis sie erblüht.
Siehe! Fünf Fußstapfen eines Kamels! V.V.V.V.V.3
Buch der Lügen, S. 68
Dieser Weg ist es, den der Adept geht, wenn er sich seinem heiligen Schutzengel nähert, sich mit ihm verbindet und den Abyssos durchschreitet, ist er doch selbst der Quell, aus dem die Erkenntnis strömt, und gleichzeitig das Gefäß, mit dem er das Meer der Weisheit ausschöpft. Wie hat es doch der Advocatus Diaboli beim Magus so schön formuliert: Die Hohepriesterin ist die Quelle, die die (zukünftigen) Erkenntnisse des Magiers durch ihre Ahnungen ergänzt. Sie selbst steht für den Akt der inneren Offenbarung, denn sie ist die Endlosschleife der menschlichen Erkenntnis, die sich nicht nur kreisend um sich selbst, sondern gleichzeitig wie eine Spirale auch in immer höhere Sphären dreht und trotzdem mit den zentrifugalen Verstandeskräften korrespondiert, damit der Empfänger, wie in diesem Falle Crowley, seine Visionen letztlich entschlüsseln konnte.4
Weiterführende Bemerkungen
1 Die Hohepriesterin ist eine der interessantesten Karten im ganzen Deck. Sie ist das wunderbare Ergebnis der Frieda Harris von Olive Whicher vermittelten projektiven Geometrie, die sie 1937 in London erfuhr.5 Es handelt sich um den Versuch, die starre euklidische Geometrie durch den so genannten mathematischen Mystizismus »aufzubrechen«. Das erinnert auch an die von M. C. Escher in den dreißiger und vierziger Jahren entwickelte geometrisch-künstlerische Methode zur Flächenfüllung und zur Darstellung des Unendlichen, die ebenso auf raffinierte Verbiegungen und außergewöhnliche Blickwinkel setzt: Die perspektivische Verkürzung des Raums, der auf der Karte der Hohepriesterin beispielsweise wie eine »Laufmasche« herunterfällt, liegt exakt auf ihrem Solarplexus. Es ist das »weiße Loch«, das den Kosmos aus sich hervorbringt. Dieser feierliche Akt wird durch die Bewegung ihrer Arme dirigiert, die den Einstieg öffnen, durch den der Reisende eintreten kann. Sie verkörpert die Weise, welche die Sterne regiert, die ihr folgen, und in dieser Haltung repräsentiert sie Nuit, die Herrin der Sterne.
2 Somit ist die Hohepriesterin der unbewusste Impuls zum schöpferischen Willen des Magus: die Idee zur Handlung, bevor sich die Tat in den Raum ergießt, die namenlose Unendlichkeit, die sich zu einem Schöpfungsakt zusammenballt. Es ist die unbewusste Absicht, die ihm die Fähigkeit, durch den Willen Dinge aus dem scheinbaren Nichts heraus zu erschaffen, einhaucht. Für alles, was er kraft seiner Vorstellung beschwört, wird sie zur verwandelten Quelle seiner Schöpfung und bildet als deren abgetrennter Rückstand den Gegenpol, der stumm und geduldig auf die Wiedervereinigung