Ähnlich verhält es sich mit den Großkundgebungen der Technologie-Szene: Events wie das SXSW in Austin oder das Web Summit in Lissabon. Abertausende Menschen pilgern dorthin, um dabei zu sein, wenn Zukunft passiert. Aber Achtung. Diese Veranstaltungen sind gar nicht so viel Zukunft, wie man glauben könnte. Vielmehr sind sie Showoffs der Technologie-Szene und Prognosen auf Basis dieser. Das ist spannend und zugleich aufregend und vor allem sehr gut gemacht.
In Sachen Zukunftskompetenz sind diese Events nur Randerscheinungen. Die Zukunft zeigt sich üblicherweise nicht im grellen Licht, sie kreuzt eher an unerwarteten Plätzen und Momenten auf. Oder wo haben Sie Ihre Partnerin fürs Leben kennengelernt?
Es ist eine ganz besondere Qualität, wenn es gelingt, in solchen Situationen das Zukunftspotenzial zu erkennen. Dafür sollte es Ihnen gelingen, sich nicht von Scheinwerfern und großen Guru-Ansprachen blenden zu lassen. Sie erkennen dadurch Möglichkeiten, wo die allermeisten nichts Besonderes wahrnehmen. Das ist Zukunft. Das ist eine ganz spezielle Form der Beobachtungsgabe.
MÖGLICHKEITEN NUTZEN: DAS NOCH-NICHT-WISSEN
Das Fundament des Möglichen ist das Noch-nicht-Wissen, das nicht zu berechnen ist. Was wir dafür brauchen, ist diese trainierte Beobachtungsgabe. Eine Art Intuition für das Kommende. Damit beginnen Sie vieles an Zukunft in der Gegenwart zu erkennen. In Garagen, Versuchslabors oder mitten unter uns, diese können Türöffner in ein Wissen sein, das wir noch nicht haben. Daher lebt die Zukunft von dem Erkennen von Möglichkeiten. Am ehesten kennt man diesen Zugang, wo es darum geht, Talente zu entdecken. Wie im Sport. Schon ganz früh will man diejenigen erspähen, die einmal Top-Skiläuferin oder -Fußballer werden sollen. Ein wahrer Boom der Talentescouts ist in den letzten Jahren entstanden. Die Potenzial-Sucher versprechen sich Ähnliches wie ich in Berlin: Man will die Zukunft entdecken: in einem Hinterhof in Nizza oder auf einem Futsal-Platz in Salvador. Man sieht einen talentierten, jungen Menschen. Man kann sich vorstellen, dass dieser alles hat, was man braucht. Potenziell. Daher wird man versuchen, dieses Talent zu fördern. So ist es auch mit Potenzialen im Leben: ob in Form einer Architekturrichtung oder einer flüchtigen Begegnung. Sie können lernen zu erkennen, ob es sich um ein Potenzial handelt oder eben nicht. Was Sie dafür brauchen: eine im ersten Moment wertfreie Beobachtungsgabe und ein Gespür für sich selbst. Denn unser bewusstes Denken stellt nur einen Bruchteil unserer Verarbeitung von Informationen dar. Wenn es um Potenziale geht, brauchen wir ein Vertrauen in den unbewussten Teil unseres Denkens. Gemeinhin würde man sagen, dass man sich auf sein Bauchgefühl verlassen sollte. Doch das wäre mir zu wenig. Es ist wesentlich mehr als Bauchgefühl. Potenziale zu erkennen bedeutet die Verbindung aus Denken und Fühlen. Vor allem wenn es um Möglichkeitsräume für Zukünftiges geht. Dann erschließen wir Noch-nicht-Wissen. Das kann man lernen; durch das Vermeiden von schnellen Wertungen einerseits. Durch das Denken in Zusammenhängen andererseits.
KONTEXTE SIND DIE LANDKARTEN DES UNBEKANNTEN
Erinnern wir uns noch mal an die Geschichte in dem Institut in Berlin. Bewerten wir die Situation zu schnell, drehen wir uns um und sind enttäuscht. Dann sehen wir die Zusammenhänge nicht. Was bedeutet das? Bleiben wir noch einen Augenblick in Berlin: Gesundheit hat einen riesigen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Viele Menschen leiden an chronischen Krankheiten: ein Drittel zum Beispiel an chronischen Schlafstörungen, ein weiteres Drittel hat Schlafprobleme – beides mit steigender Tendenz. Außerdem wird die Gesellschaft älter. Und wir leben in sehr verdichteten Wohneinheiten bei gleichzeitig steigender Einsamkeit. Alles Faktoren der Gegenwart. Wenn wir diese Zusammenhänge erkennen und mit der Idee von heilender Architektur verbinden, sehen wir Potenziale. Es sind die Kontexte, die uns helfen eine Situation einzuschätzen. Welche Kontexte beziehen sich auf das, was wir beobachten? Welche Arten von größeren Zusammenhängen können wir heute schon sehen? Können wir daraus Rückschlüsse ziehen auf das, was wir gerade beobachten?
Ein kleiner Tipp: Achten Sie sowohl auf Details wie auf das große Ganze – den Kontext. Die meisten Informationen dazwischen sind Allgemeinwissen, und daher wenig potenziell. Viel zu schnell wird unsere Aufmerksamkeit von Allgemeinplätzen verbraucht. Wenn ein Talentescout einem jungen Burschen beim Fußballspielen zusieht, achtet er nicht darauf, ob dieser das Tor trifft. Er schaut darauf, wie er sich bewegt, welche natürlichen Laufwege er nimmt. Er achtet auf Blickkontakte und Gesten. Kleinigkeiten, die für den normalen Zuschauer kaum auszumachen sind. Aber für den Scout machen diese Dinge den Unterschied. Zugleich sieht er das größere Bild, das er in seine Entscheidung mit einbezieht: Welche Talente werden gesucht, welche Clubs suchen welchen Stil? Wohin hat sich der Sport in den letzten Jahren entwickelt? Welches Talent kann den Unterschied machen? Details und Kontexte! Darauf kommt es an. Das Denken in Kontexten ist für viele Menschen schwer, es wird unseren Kindern sogar abtrainiert. Eine junge Mutter hat mir unlängst von ihrer Tochter erzählt. Diese sei ein sehr lebhaftes Kind und besucht die Volksschule. Ein Gespräch mit der Lehrerin des Kindes schilderte mir die Mutter so:
»Ihre Tochter ist sehr lebendig und wissbegierig.«
»Ja, das weiß ich. Auch zu Hause fragt sie mir ständig Löcher in den Bauch.«
»Tatsächlich denkt sie sehr vernetzt. Sie bringt in jeder Unterrichtsstunde Erfahrungen aus anderen Fächern mit.«
Eine kurze Pause.
»Aber gut. Wir werden sie trotzdem irgendwie durchbringen!«
Die Mutter war sehr aufgeregt. Sie konnte diesen Befund kaum fassen. War es nicht genau das, was wir in der modernen Arbeitswelt von den Menschen verlangen? Eigenständiges vernetztes Denken! In dieser Volksschule jedenfalls war es ein Problemfall. Ich vermute, das ist kein Einzelfall. Spielerisch zwischen Kontexten wechseln zu können, ist Basiswissen für das 21. Jahrhundert. Lassen Sie niemals zu, dass man Ihnen oder Ihren Kindern das abtrainiert.
Noch wesentlicher ist das beim Erspüren von Potenzialen. Darauf werden wir kaum sensibilisiert. Es lohnt sich, dieses vernetzte Wahrnehmen zu trainieren. Das können Sie jederzeit tun. Auch jetzt.
DREI KLEINE ÜBUNGEN FÜR ZWISCHENDURCH
Aus einem Arbeitsbuch des Zukunftsinstituts stammen die folgenden drei Übungen. Diese sind kleine Augenübungen. Das Visuelle ist unser primärer Sinneskanal. Über die Augen nehmen wir am meisten Informationen auf. Wir interpretieren auch visuell, indem wir Bilder im Kopf entwickeln. Die folgenden visuellen Übungen trainieren den Sehsinn, um Zusammenhänge besser erkennen zu können. Lehnen Sie sich zurück und machen Sie den Spaß mit.
Peripheres Sehen: Erweitern Sie Ihr Blickfeld, indem Sie bewusst auf Randphänomene achten, die sich eigentlich nur in Ihren Augenwinkeln ereignen. Unser Blickfeld ist weiter, als wir das normalerweise nutzen. Im Alltag fokussieren wir häufiger, als wir loslassen. Daher: Lassen Sie den Fokus los und verlassen Sie sich auf Ihr ganzes Blickfeld. Sie werden erstaunt sein, was sich in der Peripherie alles abspielt.
Wenden Sie es auf eine Situation an, die Ihnen wichtig ist. Gehen Sie in den breiten Blick. Könnten sich dort, in Ihrem peripheren Sichtfeld, Dinge abspielen, die für Sie eine unerwartete Relevanz entwickeln könnten?
Langsames Sehen: Nehmen Sie sich Zeit und betrachten Sie die Welt, ohne direkt an Pflichten, Nutzen und Interpretationen zu denken. Blicken Sie nicht nur auf das unmittelbar um Sie Liegende, sondern auch in die weitere Ferne. Worauf verweilt Ihr Blick, wenn er nicht gelenkt wird?
Defokussiertes Sehen: Haben Sie den Mut, Ihren Blick zu entschärfen und ihm die Klarheit zu nehmen. Zum Beispiel, indem Sie die Augen etwas zukneifen. Was sehen Sie Neues, wenn Sie sich die Freiheit nehmen, sich beim Blick auf ein Detail nicht sofort das Gesamtbild hinzuzudenken? Wenn Sie Vorannahmen und vermeintliches Wissen über Bord werfen?
Kontexte und Zusammenhänge sieht man besser in Unschärfe, im Nicht-Fokus. Die meisten Menschen sind in ihrem Alltag darauf angehalten, fokussiert zu sein. Wer kennt das nicht: Jedes Meeting muss sofort ein Ergebnis haben,