5/ZUKUNFT NEU DENKEN – ZUKUNFT FÜR FORTGESCHRITTENE
Hyperobjects: außerhalb der Zukunft denken – Vom Prozess zum Hyperobject – Warum die Zukunft in Objekten denken? – Hyperobjects helfen, Zukunft zu lesen – Zu theoretisch – Zukunft ist endlich – Was bleibt von der Zukunft? – Verrückt sein lohnt sich – Paradoxie als Kompetenz – Warum wir besser auf die Zukunft achten sollten – Die wichtigste Sprache der Welt
SO BRINGEN WIR MEHR ZUKUNFT IN UNSER LEBEN
Meine Nasenspitze drückt sich an das kalte Fenster. Ich kann es kaum fassen. Mein Blick ist auf das Großartigste gerichtet, das ich je gesehen habe: unseren Planeten Erde. Ich bin überwältigt. Gänsehaut. Mein Atem ist intensiv, mein Puls rast. Und doch erfasst mich eine Ruhe. Nur selten zuvor in meinem Leben habe ich diese Intensität erlebt. Am Traualtar, bei der Geburt unserer Söhne. Und jetzt hier. In der Raumstation GeniusX. 470 Kilometer von der Oberfläche der Erde entfernt.
Der Anblick unseres blauen Planeten ist dermaßen ergreifend, dass niemand um mich herum auch nur ein Wort von sich geben könnte. Wir alle spüren die Bedeutung, die dieser Moment für unser Leben hat. Glück. Freude. Hoffnung. Mitgefühl. Und: Trauer. Weil es immer noch Menschen gibt, die glauben, dieser Planet sei unverwüstlich.
Sofort wird mir klar: Niemandem will ich mehr zuhören, der nicht zumindest erahnt, dass wir Menschen eine große Verantwortung für diese robust zerbrechliche Kugel haben. Niemals mehr werde ich jemanden verstehen, der glaubt, Zäune wären eine Lösung für unsere Probleme. Es geht nicht. Hier oben gibt es daran keinen Zweifel. »Von hier oben ist klar, Europa gehört zusammen.« Das twitterte schon 2018 der Astronaut Alexander Gerst bei seinem Flug über Europa. Die Astronauten gaben diesem ganz besonderen Moment der Ergriffenheit den Namen Overview-Effekt. Keiner der bisher 1845 Menschen, die jemals in den Weltraum gereist sind, kann sich diesem Effekt entziehen. Die Distanz zur Normalität, der Abstand zum scheinbar sicheren Boden, die Isoliertheit der Raumstation mit ihren dünnen Wänden zum Nichts, und das Schwarz. Dieses unfassbar tiefe Schwarz, das unseren Planeten von hier oben umgibt. Das alles zusammen versetzt jeden, der diese Reise antritt, in einen Zustand großer Betroffenheit. Overview-Effekt. Aber was sind schon knapp zweitausend Menschen im Verhältnis zu den neun Milliarden auf dem Planeten, die dieses Erlebnis nicht haben. Was sind ein paar Dutzend Menschen, die bereits den Mars betreten haben, verglichen mit dem Alltag, den wir auf der Erde durchleben. Dennoch: Für mich ist dieser Moment eine wahre Sternstunde. Heute, hier und jetzt ändert sich mein Leben. Meine Sicht auf die Welt hat sich im wahrsten Sinne erweitert. Ich sehe nun vieles mit anderen Augen. Auch meine Zukunft.
Mir wird zum Beispiel klar: Keine Entscheidung von globaler Tragweite dürfte jemals mehr auf dem Planeten getroffen werden. Kein G7, kein G38-Gipfel oder auch kein Summit of Mayors darf mehr auf der Erde stattfinden. Die Nähe in einer solchen Konferenz führt allzu schnell zu Trennung, ideologischen Kämpfen und Egoismen. Hier oben erkennt man die Einheit. Von hier oben hätte man viel besser über Handelskriege, Brexit oder den Klimawandel verhandeln können. Die Führer der mächtigsten Nationen und Städte müssen in Raumfahrzeuge steigen und im Orbit tagen. Das Ergebnis von Verhandlungen wäre ein drastisch anderes. Da bin ich mir ganz sicher.
Umso mehr wünschte ich mir, ich könnte dieses Gefühl des Overview-Effekts mit allen Menschen teilen. Und ich werde es teilen – auf allen mir zugänglichen Kanälen. Trotzdem weiß ich: Wie auch immer Menschen meine Eindrücke aufnehmen, sie können nur erahnen, was ich beim Anblick unseres Planeten fühle. Daher bin ich froh, dass sich mehr und mehr Weltraumprogramme etablieren. Viele Tausende Weltraumreisende werden die Gelegenheit haben, diese herausragende Erfahrung machen zu können. Und zwar nicht nur virtuell, sondern wirklich. Das ist ein gigantischer Unterschied. Wie oft war ich selbst schon im Simulator, wie oft hab ich von diesem Overview-Effekt gelesen, mir Geschichten von Astronauten angehört. Doch dieser Moment: 470 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt. Einzigartig. Wie das Leben selbst.
Solche Momente prägen uns. Sie erzeugen einen neuen Blick auf unsere Welt und eine erweiterte Zukunft breitet sich aus. Jeder Mensch kennt diese Momente. Wo und wann haben Sie zum Beispiel ihren Lebenspartner getroffen? Wie kamen Sie auf den Geistesblitz, der sie beruflich weiter gebracht hat, als Sie je dachten? Was war das für eine Begegnung, die Ihnen geholfen hat, eine tiefe Krise zu überwinden? Wann haben Sie für sich verstanden, dass Sie ab sofort aufhören zu rauchen? Sternstunden der eigenen Zukunft. Es sind emotionale Momente, in denen uns neue Wegweiser und Ressourcen zur Verfügung stehen. Klarheit kommt auf. Wenn wir diese Momente erkennen und richtig deuten, sind es echte Wendepunkte. Die Reise beginnt aufs Neue. Unser Leben bekommt Schwung und die Gegenwart öffnet sich für neue Facetten der eigenen Zukunft. Manchmal im Großen, manchmal im Kleinen. Aber immer von Bedeutung.
HIER UND JETZT, ES GEHT LOS!
Zurück im Hier und Jetzt soll es nun genau darum gehen. Wie bekommen wir Schwung in unsere Zukunft? Wie erkennen wir die Sternstunden der eigenen Zukunft? Was liegt vor uns? Welche Hoffnungen dürfen wir haben, welche Ängste sind berechtigt? Viele Fragen. Wir werden diese Fragen schrittweise und zum Teil detailliert erörtern und überraschende Antworten entdecken. Und wir werden neue Fragen stellen. Denn Fragen öffnen unser Denken und unser Fühlen. Fragen – nicht Antworten – sind die Eintrittskarten in die eigene Zukunft. In Anbetracht einer Zeit voller guter wie auch schlechter Optionen und Möglichkeiten benötigen wir neue Qualitäten im Umgang mit unserer eigenen Zukunft. In den letzten zwanzig Jahren habe ich mich umfassend und ausgiebig mit diesem Möglichkeitsraum beschäftigt. Die Zukunft wurde mein persönliches Faszinosum, mein Spezialgebiet und meine Leidenschaft. Aber anders, als man sich das vielleicht erwarten würde.
Als Kind saß ich häufig auf dem elterlichen Balkon. Ich beobachtete die Umgebung und fragte mich irgendwann: Was wäre, wenn das, was