Ich bin damals in viele Häuser gekommen, wurde oft von den Hausmeistern hinausgeworfen, habe aber doch einen überraschenden Werbeerfolg erzielt. Einer von denen, die ich gewonnen habe, war der kleine Sedlacek, der mich noch heute bei jeder Veranstaltung begrüßt. Das Eis war gebrochen. »Der kann mit die Buam und die Madln reden, der Kreisky«, hieß es, und so bin ich der Führer dieser kleinen Gruppe gewesen. Dann aber haben sich einige der Verantwortlichen gedacht, den Kreisky, den ziehen wir uns zu anderen Aufgaben heran. So wurde ich Obmann des gesamten Bezirkes und kam in die zentrale Obmännerkonferenz der Jugendorganisation. Dort lernte ich viele gute Leute kennen, von denen manche berühmt wurden; unter anderem kam der spätere Bundespräsident Franz Jonas aus diesem Kreis.
Meinen politischen Aufstieg verdanke ich sicherlich zum Teil dem Umstand, dass ich im Frühjahr 1929, nach der Matura, viel Zeit hatte und mich folglich der Zentrale unserer Jugendorganisation bei der Vorbereitung des Internationalen Jugendtreffens zur Verfügung stellen konnte, das vom 12. bis 14. Juli in Wien stattfinden sollte. Es war ein gewaltiges Ereignis für die jungen Sozialisten in ganz Europa, und noch heute – 1986 – gibt es überall auf dem Kontinent Leute, die an das Wiener Jugendtreffen als an ihr größtes Erlebnis zurückdenken.
Bei einer Konferenz in Wien-Favoriten waren der Führer der Gesamtjugendbewegung, Felix Kanitz, und Alois Piperger auf mich zugekommen und hatten gefragt, was ich denn jetzt nach der Matura so vorhätte.
Die SAJ-Gruppe Wieden: letzte Reihe, Zweiter von rechts (halb verdeckt) Bruno Kreisky; in der Mitte, mit weißem Hemd, Ferdinand Nothelfer; links hinter ihm Heinrich Matzner, daneben Camillo Possaner. Ganz links außen Viktor Stedronsky.
»No ja, jetzt werd’ ich mir’s erst einmal gut gehn lassen«, habe ich geantwortet, »und im Herbst werd’ ich auf die Hochschule gehen.« Ich hatte also nichts vor, und da hat mir der Kanitz, der mich gern hatte, erklärt, sie brauchten Leute zur organisatorischen Vorbereitung dieses Jugendtreffens, ob ich mitmachen wolle? Ich war sehr stolz auf dieses Angebot und wurde dem internationalen Organisationsbüro zugeteilt, das man für die Veranstaltung ins Leben gerufen hatte.
Die Vorbereitungen liefen recht gut. Aber angesichts der zu erwartenden Massen überkamen mich doch gewisse Bedenken. Eines Tages meldete ich mich bei Felix Kanitz. »Wenn da tatsächlich 50.000 Leute aus ganz Europa nach Wien kommen, allein 15.000 in Sonderzügen aus Deutschland, das wird doch einen Riesenwirbel in Wien geben. Das werden wir nicht bewältigen. Wo sollen wir die Leute denn hinlotsen, wo ist die Anlaufstelle? In unserem Büro wird das nicht gehen.« Kanitz schaute mich verdutzt an, gab mir dann aber völlig recht: »Ja, das wird ein heilloser Wirbel! Vielleicht könnten wir uns in den Bahnhöfen einrichten … Sag, was schlagst denn vor?«
Da habe ich das denkbar einfachste vorgeschlagen. Die Sonderzüge brauchten von der Grenze nach Wien ungefähr drei bis vier Stunden. Wenn wir unsere Leute mit allen Unterlagen an die Grenze schickten, sie sich im Zug etablierten und alles ausgaben, im einen Abteil die Karten für die Veranstaltungen, im andern Abteil die Formulare für die Quartiere und so weiter, dann war das ganze Problem doch bis Wien gelöst. Kanitz fand meinen Vorschlag gut.
In Pipergers Buch Rote Jugendfahnen über Wien gibt es einen Passus über mich: »Da war der 19-jährige Bruno, Obmann einer Wiener Ortsgruppe, er stellte sich zur freiwilligen Mitarbeit zur Verfügung und übernahm das Expedit der Teilnehmerkarten und die Einteilung der Eintrittskarten für die künstlerischen Veranstaltungen. Eine schwierige, nur durch eine glückliche Verbindung von Selbständigkeit und Präzision zu vollbringende Aufgabe. Und der 19-Jährige, der niemals zuvor eine so schwierige, größte Aufmerksamkeit und Hingabe erfordernde Tätigkeit geleistet hatte, nimmt die Sache in Angriff und führt sie musterhaft durch.« So war ich plötzlich da, und nichts schien meinem Aufstieg entgegenzustehen.
Das Wiener Jugendtreffen war für mich eine große Erfahrung. Zum ersten Mal erlebte ich die Idee der Internationale. Damals lernte ich die wichtigsten europäischen Jugendführer kennen, aus denen später zum Teil bedeutende Politiker wurden: den Holländer Koos Vorrink, nach dem Krieg der populärste Politiker seines Landes, den früh verstorbenen Vorsitzenden der schwedischen Arbeiterjugend, Rikard Lindström, die Dänen Hans Christian Hansen und Hans Hedtoft-Hansen, beide nach dem Krieg Ministerpräsidenten, und natürlich den Sekretär der Sozialistischen Jugendinternationale, Erich Ollenhauer. Wegen seines Humors und seiner rundlichen Bonhomie war Ollenhauer überall gern gesehen. Die Deutschen hielten es in besonderer Weise mit der »jugendbewegten« Einheitstracht, und wenn der kleine, dicke Ollenhauer in kurzen Hosen und blauem Hemd erschien und sich genüßlich eine große Zigarre anstreckte, dann wirkte das schon ziemlich komisch. Auf diesem Jugendtreffen hat sich auch in Österreich das blaue Hemd durchgesetzt, das noch heute von sozialistischen Jugendlichen getragen wird.
Knapp ein Jahr später, zu Ostern 1930, fand in Eisenstadt eine Tagung des Gesamtverbands der Jugendorganisationen statt, an der ich als Delegierter teilnehmen sollte. Als ich den Saal betrat, hörte ich vom Podium, wie einer sagte: Man könne nicht akzeptieren, dass in den Verbandsvorstand als Stellvertretendes Mitglied jemand komme, der ein Intellektueller sei und zudem aus dem Großbürgertum stamme. Man müsse dieser Art von Unterwanderung Einhalt gebieten. Ein zweiter hat das bestätigt und hinzugefügt, man müsse den proletarischen Charakter der Jugendbewegung wahren. Ich habe das eigentlich ganz plausibel gefunden, jedenfalls für vertretbar, bis ich plötzlich erkennen musste, dass kein anderer als ich damit gemeint war. Tief gekränkt ging ich zu meinem Freund Alois Piperger und sagte, ich hätte mich ja nie um eine solche Funktion beworben, warum also diese Gehässigkeit. Ich wolle doch nur meine Arbeit machen. Aber wenn man mich nicht haben wolle, dann ginge ich eben. Ich war, um ehrlich zu sein, den Tränen nahe. Es war eine Mischung von Trauer und Zorn. Piperger hat mir lange zugeredet, und zu guter Letzt bin ich dann doch geblieben. Alois Piperger, später Präsident des Aufsichtsrates der Länderbank, betrachte ich noch immer als meinen wichtigsten politischen Freund. Dass er mich damals zurückgehalten hat und sich auch später oft als wohlwollender älterer Freund erwies, habe ich ihm mein Leben lang nicht vergessen.
Die Delegierten aus den Bundesländern haben auf diese Weise zum ersten Mal von mir erfahren. Da die Kritik an mir von den Wienern kam – die erst später meine guten Freunde wurden –, beharrten sie darauf, dass ich meine Kandidatur aufrechterhalte. So habe ich eine ganz komfortable Mehrheit bekommen, ungefähr die gleiche wie bei meiner Wahl zum Parteivorsitzenden 1967. Da waren es wieder vor allem die Bundesländer, die mich gewählt haben.
Ich war nun Ersatzmitglied des Verbandsvorstandes und gehörte damit zu denen, die an den Sitzungen des Führungsgremiums teilnehmen durften. Etwas später wurde ich Vollmitglied, und auf dem Verbandstag in Salzburg, 1933, avancierte ich zum Vorsitzenden des Reichsbildungsausschusses. Damit trug ich die Hauptverantwortung für die politische und kulturelle Erziehungsarbeit der Sozialistischen Arbeiterjugend.
Es fällt mir schwer, retrospektiv die Gefühle zu schildern, die mich nach dieser Wahl beseelt haben. Als ich den Saal verließ, war ich ganz einfach glücklich. Mehr wollte ich für mich in dieser Zeit nicht erreichen. Ganz bestimmt wollte ich nicht der erste Mann der Arbeiterjugendbewegung werden, weil ich mir immer vorstellte, dass ihr Wortführer, der erste Mann oder die erste Frau, ohne Zweifel aus der Arbeiterjugend kommen musste. Ein Sohn aus bürgerlichem Hause besäße bei aller Integration in den Kreis der jungen Arbeiter und Angestellten nicht jene absolute Glaubwürdigkeit, die man hierfür braucht. Man darf ja nicht vergessen, dass eine solche Funktion zwei Seiten hat. Zum einen ist man der Vertrauensmann einer sozialen Gruppe, aber andererseits muss man auch zu Zeiten ihr Wortführer sein. Der Beste in meinen Augen war also der, der beides in idealer Weise verband, und wenn es einen solchen gab, dann war es Roman Felleis.
Roman Felleis