Urplötzlich hörte er eine Stimme, die Stimme seiner Schwiegermutter Margot: „Du warst für mich der weltbeste Schwiegersohn, den man sich nur wünschen kann – wie kannst du so was tun, Jens?“
„Ich dachte, ich sei die glücklichste Ehefrau auf dieser Erde, weil ich dich zum Ehemann habe, Jens – aber du hast mir die ganze Zeit was vorgespielt. Du bist in Wirklichkeit ein böses Monster.“
„Papa, was machst du da?“ Das war Magdalenas Stimme. „Das bist nicht du – mein cooler Papa! Das ist ein böser Mörder, der hier steht und so was tut!“
Alle starrten ihn aus riesengroßen Augen an. Es war ein unglaublicher Augenblick für Jens – alle Menschen, die er von ganzem Herzen liebte, und Menschen, vor die er sich jederzeit werfen würde, um sie zu beschützen, standen da und sahen in so verzweifelt und maßlos enttäuscht an, dass es ihm das Herz in der Brust zerquetschte – der Anblick der Gesichter seiner Liebsten verursachte eine unbeschreibliche Atemnot. Es war die Höchststrafe! Aber wo kamen sie her? Margot lag doch im Krankenhaus – wie konnte sie hier stehen?
Plötzlich klingelte es … ganz weit weg! Jens verspürte einen enormen Ruck in seinem Körper und dann einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Vorsichtig öffnete er die Augen und fand sich auf dem Boden vor dem Sofa in seinem vertrauten Wohnzimmer wieder. Es war ein Traum! Es war wirklich nur ein Traum – aber so echt! So unglaublich echt! Die Bilder, die Gefühle, die Gerüche, das Gewicht der Leiche, die Gesichter – das war alles so realistisch! Aber es war nur ein Traum! Gott sei Dank. Hoffentlich blieb er das auch!
Aber das Klingeln, das war echt … Jens versuchte aufzustehen, was allerdings schwierig war. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Es war schier unmöglich, den Kopf hochzunehmen. Dieser Traum war das reinste Martyrium – was, wenn er die Wahrheit war? Das Telefon, er musste das Telefon abnehmen! Irgendwie erreichte er es noch rechtzeitig.
„Ich konnte die Polizei davon überzeugen, die Suche zu starten! Sie werden vor deinem Haus beginnen. Ich habe ihnen erzählt, dass ich Joy da abgesetzt habe und du nicht zu Hause warst. Hat sie sich bei Magdalena auch nicht mehr gemeldet?“
„Nicht, dass ich wüsste, das hätte sie mir sicher erzählt! Hältst du mich bitte auf dem Laufenden?
„Ja, mach ich“, sagte Clara in einem Ton, der Jens das Herz brach. Diese Frau hatte weiß Gott schon ein unglaublich schweres Leben zu meistern. Was er ihr jetzt noch angetan hatte, raubte ihr sicher den letzten Rest Lebensfreude und Lebensmut. Das Mädchen war ihr Ein und Alles – ihr Lebensinhalt, ihr Grund zu leben und jeden Tag zu kämpfen, damit ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglicht wurde. Es gab nichts anderes in Claras Leben, das zählte, das Sinn machte oder wofür es sich lohnte, sich jeden Tag aufs Neue anzustrengen! Das wusste Jens nur zu gut und deswegen lastete die Schuld noch schwerer auf ihm.
Jetzt musste die Polizei doch gleich klingeln. Er hörte schon viele Stimmen vor dem Haus, wollte sich aber noch ein bisschen zurechtmachen – er musste wie ein Gespenst aussehen. Und ja, er erschrak selber fürchterlich vor seinem Spiegelbild. So hatte er sich selbst noch nie gesehen – völlig entstellt! Ein Fremder starrte ihn an! Das gab es doch nicht – er rief sich in Erinnerung, wie er ausgesehen hatte, bevor er sich vom Friseur auf den Weg zu seinem großen Auftritt im Geschäft gemacht hatte. Er dankte dem lieben Gott für das große Geschenk, das er allein mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung mit auf seinen Lebensweg bekommen hatte. Dass er zusätzlich auch noch mit einem sogenannten „guten Herz“, Einfühlungsvermögen und mit einem extrem hohen Maß an sozialer Kompetenz ausgestattet war – dafür war Jens wirklich wahnsinnig dankbar. Es war ihm vollkommen bewusst, dass das alles Gottes Gaben waren – ein großes Geschenk der Natur, denn er kannte nur sehr wenige Menschen, die das Glück hatten, mit all diesen Komponenten ausgestattet zu sein. Ja, das dachte er wirklich an dem Morgen voller tiefer Demut und Dankbarkeit.
Er wusch sich und kämmte sich, zog neue Kleidung an. Zu mehr war er nicht in der Lage und wollte es auch nicht. Also ging er wieder ins Erdgeschoss und wartete, dass die Polizei ihn verhören würde. Er wartete und wartete … Sie sollten endlich klingeln, dass er es hinter sich bringen konnte. Aber es passierte nichts – die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Jens traute sich an das Fenster, von dem man auf den Eingangsbereich schauen konnte. Da war keiner mehr. Wie konnte das sein? Die Beamten hatten sich wohl kaum mit der Aussage, dass niemand zu Hause war, zufriedengegeben. Sie mussten doch trotzdem alle Möglichkeiten checken. Sicher würden sie noch einmal zurückkommen. Aber es wurde langsam dunkel und es passierte nichts mehr.
Je länger Jens über seine Situation nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich schnell entscheiden musste, wie er sich verhalten sollte. Er entschied als Erstes, dass es das Vernünftigste wäre, morgen wieder ganz normal ins Büro zu gehen! Er wusste, dass er es schaffen würde, Charlene nicht sofort den Hals umzudrehen, weil die Sorgen um Joy noch viel intensiver waren als der Hass auf seine Assistentin. Entschuldigung – Chefin! Big Boss!
Plötzlich hatte er so große Sehnsucht nach seiner Familie. Sofort rief Jens Celine an und freute sich auf ihre Stimme. Er erhoffte sich eine beruhigende Wirkung, die Celine fast immer auf ihn hatte. Fröhlich rief sie: „Hallo Schatz, ich freu mich so, dass du dich meldest. Ich vermisse dich so!“
Genau so hatte es sich Jens gewünscht. Sie tat ihm so gut und es bestätigte ihm nochmals das Gefühl, alles dafür tun zu müssen, um diese wunderbare Frau nicht zu verlieren. „Oh Liebling, ich habe so einen Stress, es ist der reinste Horror. Entschuldige, weil ich immer so kurz angebunden war. Ich vermisse dich auch so sehr und natürlich auch unsere Racker. Alles okay bei euch? Wie geht es Margot?“
„Am Montag bekommt sie ihren Herzschrittmacher. Sie ist aber schon wieder ganz die Alte – flotte Sprüche, gesunder Appetit und eitel wie immer. Ich musste schon einen Großeinkauf machen, weil alles nicht schick genug war, was ich aus ihrem Schrank mitgebracht habe. Sie schäkert mit den Ärzten und ist der Liebling der Krankenschwestern. Ist es okay, wenn ich noch die ganze nächste Woche bei ihr bleibe und sie dann mit zu uns bringe, bis sie zur Kur kann?“
„Na klar, Süße, so machen wir das! Wir kommen hier schon klar. Ich werde versuchen im Geschäft etwas kürzer zu treten …“ Das war ein Fehler – sofort wurde es ihm klar, aber es war zu spät. Celine war eine sehr intelligente Frau, die sofort fragte, wie das gehen solle, jetzt, da er doch der wichtigste Mann in der Firma war. Er solle doch seine Mutter fragen, ob sie für die eine Woche aushelfen könne.
Und jetzt? Sollte er sofort beichten? Nein, das wollte er nicht am Telefon besprechen, sondern unter vier Augen erklären. Aber von Joy wollte er unbedingt noch erzählen. Celine war sehr beunruhigt und stellte auch sofort fest, dass es ganz und gar nicht zu Joy passe, einfach abzuhauen. Sie stellte noch ein paar Fragen, aber Jens konnte kaum eine beantworten. Erleichtert war er trotzdem, dass sie darüber gesprochen hatten.
Am nächsten Morgen überlegte Jens einen kurzen Moment, ob er nicht doch zu Hause bleiben sollte, aber nachdem er sich die Argumente, die für das Gehen sprachen, nochmals vor Augen geführt hatte, gab er sich einen Tritt und machte sich auf den Weg ins Bad. Er war so froh, dass er nicht wieder so schlecht geträumt hatte – das hing aber wahrscheinlich mit der Schlaftablette zusammen, die er genommen hatte. Dadurch hatte er so tief und fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Und trotzdem ließen ihn die Bilder des Traumes nicht los. Er glaubte nicht wirklich, dass er Joy etwas angetan hat – bis auf die Vergewaltigung natürlich. Ja, das war natürlich schlimm, sehr schlimm, aber kein Vergleich zu dem Geträumten. Er hätte in dem Zustand weder eine Leiche aus dem Haus schleppen können noch den ganzen Weg bis in den Wald. Und Spuren von einem Kampf oder gar Blut gab es im ganzen Haus nirgendwo! So ein Unsinn – nein, er hatte Joy nichts weiter angetan. Trotzdem beschloss er, in den Wald zu laufen und an der Stelle, von der er geträumt hatte, nachzuschauen, nur um sich selbst zu beruhigen. Die Polizei hatte doch schon alles abgesucht – also sicher auch den Wald. Auf der anderen Seite schien es ihm, als ob sie die Sache wirklich nicht sonderlich ernst genommen hatten, weil sie es nicht einmal für nötig hielten, ihn zu vernehmen.
Natürlich war im Wald nichts, dennoch fing er an zu zittern, zu schwitzen und gegen akute Atemnot anzukämpfen, je mehr