Tief in meine Betrachtungen versunken hatte ich die erste Etappe meines Ziels hinter mich gebracht. Ich stoppte einen kurzen Moment, um mir einen weiteren Blick nach oben zu gönnen, doch war das Ende des Turmes zwischen den tief hängenden Wolken noch immer nicht zu sehen. So machte ich mich an die zweite Hürde. Doch während die erste Umrundung noch relativ leicht vonstatten gegangen war, verspürte ich nun einen deutlichen Kräfteverlust. Das Gewicht auf meinen Schultern schien sich verdoppelt zu haben, und ich begann schon nach wenigen Schritten jämmerlich zu keuchen. Der Schweiß brach mir aus allen Poren, rann mir die Glieder hinab und wurde von meinem Büßergewand aufgesogen, das schon bald wie eine zweite Haut an mir klebte. Gequält richtete ich den Blick auf den vor mir ausschreitenden Sünder, der sein Tempo ebenfalls verlangsamt hatte. Angestrengt sann ich darüber nach, wie viele unzählige Liter Schweiß während diesem mühsamen Streben sich bereits auf diesem staubigen Pfad verteilt haben mussten. Hätte ich solch eine Überlegung sonst gerne noch jemandem mitgeteilt, schien sie mir unter den gegebenen Umständen nicht mal einer Erwähnung wert. Zu kostbar dünkte mich jeder Atemstoß, den ich nicht mit unnützen Worten zu verschwenden gedachte. Das vierte und letzte magische Grundprinzip, das Schweigen, kam mir in den Sinn, das mir nirgendwo angebrachter erschien als hier. Diesmal sah ich vor meinem inneren Auge eine hochschwangere Frau, die als Urprinzip allen Seins die gesamte Welt aus sich hervorbrachte. Gefühlsregungen in all ihren schillernden Facetten ergriffen von mir Besitz und ließen mich abwechselnd auflachen oder vor Traurigkeit laut aufschluchzen. Die erwachenden sexuellen Kräfte schienen eine gewaltige Verunsicherung in mir zu verursachen, denn mir kam ein lange zurückliegendes Erlebnis aus meiner Pubertät wieder in den Sinn, über das ich bereits in der Krebs-Hölle meditierte, als ich beim Onanieren vom Vater überrascht worden war. Ich sah die hämischen Gesichter des Pfarrers, meines Onkels, und meines Vaters vor mir auftauchen und schickte ihnen die Botschaft, dass ich ihnen ihr Unvermögen, der Freude der Schöpfung um ihrer selbst willen damals nicht anders begegnen zu können, bereits verziehen hatte.
Als ich wieder aufblickte, hatte ich die zweite Umrundung geschafft und überlegte, ob es nicht besser wäre, kurz anzuhalten, um etwas Luft und neue Kraft zu schöpfen. Doch Akrons warnende Worte und die Aussicht, damit das Eintreten einer erneuten Vision unnötig hinauszuzögern, hielten mich davon ab. So schleppte ich mich mühsam weiter. Allerdings sollte ich meinen Entschluss sogleich bereuen, denn es kam mir vor, als hätte sich die auf meinen Schultern ruhende Last abermals verdoppelt. Alle Mühsale und Qualen dieser Welt schienen den Entschluss gefasst zu haben, sich mir auf einmal aufbürden zu wollen. Die Riemen des Korbes schnitten mir wie glühendes Eisen ins Fleisch und drohten mir jegliche Blutzufuhr abzuklemmen. Meine wunden Füße bereiteten mir schon jetzt erhebliche Pein, ein schmerzendes Rückgrad tat das übrige, und ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob es vor mir wohl schon irgendjemandem gelungen war, diesen Turm tatsächlich ohne Rast an einem Stücke zu bezwingen? Offensichtlich meinem Seelenführer, dessen letzte Worte mir noch in den Ohren lagen, bevor er sich mit dem Lastenaufzug bequem hatte in die Höhe hieven lassen.
Dieser Gedanke gab mir unversehens Auftrieb. Ich richtete mich kurz auf, verlagerte meine Last ein wenig und verfiel in einen harmonischen Rhythmus, indem ich völlig abschaltete und meine Beine sich wie von selbst bewegen ließ. Schritt um Schritt schleppte ich mich weiter nach oben, während mir der Schweiß immer öfter in die Augen rann. Ich begann den Schmerz zu ignorieren und als ein notwendiges Übel zu erachten, dessen Durchleiden mich dorthin führte, wo Verstand und Ratio sich zu verabschieden begannen. Mein Körper schüttete Endorphine am Fließband aus und reduzierte meine physische Wahrnehmung auf ein Minimum. Dafür tauchte eine alte Szene aus der Stier-Hölle auf, in der ich meinen Vater im Knabenalter erblickte, der sich gerade anschickte, einen großen Stapel Holz vor dem Hause seiner Eltern aufzuschichten. Großvater kam mit einem Lederriemen aus der Tür und drohte ihm, dass es nicht nur kein Abendessen, sondern auch noch eine tüchtige Tracht Prügel gäbe, wenn dieser Stapel nicht binnen zweier Stunden aufgeschichtet wäre. Wer essen wolle, müsse zuerst arbeiten. Vater verdoppelte seine Bemühungen, während ich seine Gefühle wie eine dunkle Aura um ihn herum wahrnehmen konnte, die sich in ihrer kindlichen Entfaltung blockiert wieder nach innen zurückzog, während sein aus Ohnmacht und Wut gespeister Überlebenswille ihm signalisierte, dass man im Leben zunächst zu beweisen hatte, dass man der Liebe in Form emotionaler Zuwendung und Anerkennung auch wirklich wert war – ein wesentlicher Grundsatz seiner Erziehung, den er mir später ebenso vehement eintrichterte.
Als ich die Augen öffnete, hatte ich die dritte Ebene des Turmes tatsächlich erreicht, und obwohl die Aussicht auf eine erste Rast mehr denn je lockte, gab mir mein gefundener Rhythmus doch genügend Vertrauen in die eigene Kraft, auch die kommenden Stufen auf diese Weise zu bewältigen. Zwar schien sich auch diesmal wieder ein zusätzliches Gewicht auf meinen gepeinigten Rücken zu legen, doch da ich diesmal darauf vorbereitet war, erschien mir der Korb zu meinem eigenen Erstaunen nicht wesentlich schwerer. Wieder tauchte mein Blick nach innen und im nächsten Augenblick empfand ich mich als zehnjährigen Knaben, der sich im Klassenzimmer seiner ehemaligen Schule wieder fand. Mein alter Mathelehrer stand vor mir und forderte mich mit sardonischem Lächeln auf, mich vorne an die Tafel zu begeben. Wohl wissend, dass ich keine seiner Fragen beantworten konnte, da ich meine Hausaufgaben wie meistens nicht gemacht hatte, gedachte er mich vor versammelter Klasse abzufragen. Mit sichtlichem Genuss weidete er sich an meinem Unbehagen und freute sich über die lachenden Spottrufe meiner Mitschüler, vor denen er mich als Deppen und Versager vorführen konnte. Auf diese Weise ließ er mich seine Macht spüren, in der ich all die Autorität ablehnte und bekämpfte, mit der mich Zuhause schon mein Vater in meiner entfaltenden Kreativität behinderte, was mich später dazu bewog, grundsätzlich alles abzulehnen, was mich unter Druck setzte und sich nicht auf irgendeine Weise mit einem Lustgewinn verbinden ließ. All die Ohnmacht dieser peinlichen und zutiefst demütigenden Situation kehrte zurück und ich erkannte, in welchen negativen Mustern wir uns gegenseitig unterwerfen und gefangen halten. Fehlendes Selbstvertrauen wird durch Rebellion gegen autoritäre Instanzen und ihre Vertreter kompensatorisch ausgelebt, weil man die Verantwortung für sein eigenes Leben nicht übernehmen will.
Ich bemerkte kaum, dass ich bereits die vierte Stufe des Turmes erklommen hatte, denn die nächste Vision reaktivierte in mir einen Traum, den ich einst als junger Mann gehabt hatte. In dieser Szene war ich ebenfalls auf einem schmalen Bergpfad in die Höhe gewandert, allerdings an der Seite eines alten Bekannten, mit dem ich seinerzeit befreundet war. Es galt für uns beide einen gewaltigen Gletscher zu umrunden, von dem wir wussten, dass der enge Weg uns irgendwann zum Gipfel führen würde. Mein Freund, ein magisch verbrämter Selbstverhinderer, eilte mir mit schnellen Schritten voraus und hielt mich stets an, es ihm nachzutun. Dies tat ich auch, bis ich irgendwann den Kopf hob, um zu bemerken, dass die terrassenartigen Windungen des Bergpfades so dicht übereinander lagen, dass man ohne große Mühen die nächsthöhere Schleife erklimmen konnte, ohne dabei den langen Umweg um den Berg herum nehmen zu müssen. Ich rief ihm meine Entdeckung nach, doch er winkte nur beleidigt ab und bezeichnete mich als Drückeberger, der den Herausforderungen des Lebens lieber ausweichen wolle, anstatt sich ihnen zu stellen, um sie in Demut anzunehmen. Obwohl mir seine Worte tief ins Gewissen schnitten und an meiner Mannesehre rüttelten, konnte ich dennoch wenig Sinn darin erkennen und kletterte kurzerhand auf die nächste Ebene, um dort auf ihn zu warten. Als er nach langer Zeit endlich auftauchte, schien er nicht nur deutlich gealtert, müde und erschöpft, sondern obendrein noch verbittert und mit dem Vorwurf behaftet, dass ich ihn auf seinem beschwerlichen Weg verraten und im Stich gelassen hätte. So ging er enttäuscht an mir vorbei, um sich im Kampf gegen sich selbst auch weiterhin einsam an die nächste mühevolle Umrundung des Gletschers zu machen, dessen Gipfel mehr denn je in weite Ferne gerückt war.
Dieses letzte Traumbild hatte mich unversehens auf die fünfte Stufe geführt und staunend bemerkte ich, dass sich dieser Pfad bereits in den Wolken befand. Ich hielt kurz an und verlagerte den schweren Korb stöhnend auf meinen wundgescheuerten Schultern. Während meiner kaum merklichen