„Wie ist das möglich?“ stotterte ich. Akron lächelte abermals und machte eine ausholende Armbewegung über das kleine Plateau, das vom unwirklichen Licht der schwarzen Sonne durchflutet wurde.
„Wer bis hier oben hin gelangt ist, dessen untrügliche Sicht ist so rein und klar geworden wie die Reinheit einer kühlen Bergquelle. Es fehlt nur noch die Seele.“
„Seele?“ Erst da fiel mir auf, dass die ganze Spitze des Turmes aus kristallenem Eis gebildet war, in dem ein scharlachroter Funke wie die Sehnsucht eines kleinen Herzens glühte.
„Zerbrich dir nicht den Kopf “, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. „Wer versucht, das herauszufinden, reduziert die Seele auf etwas Triviales. Sie ist ein Geheimnis – die Lösung ist der Weg.“ Dann rümpfte er die Nase und wies auf mein Büßergewand: „Du kannst diesen verschwitzten Lappen getrost wieder ausziehen.“
Ich folgte seiner Anweisung und streifte mir den durchweichten Fetzen über den Kopf. Ich überlegte, wie viele Büßer diesen Pfad wohl schon vergeblich bestiegen haben mochten, der sich jedem Suchenden in einer anderen Länge präsentierte. Nicht jeder konnte das durchlittene Leid mit der Einsicht verbinden, dass man sich seine eigenen Ziele stets immer noch ein Stück weiter vor die Nase setzte, um in dieser Hölle am letzten Hindernis doch noch scheitern zu können. Denn sobald es galt, ein durchlittenes Muster loszulassen, um zu neuen Ufern ins Unbekannte vorzustoßen, stellt man sich lieber ein weiteres Stockwerk auf das schon bestehende Weltgerüst drauf, dessen Fundament, ganz gleich wie instabil und verrottet es auch sein mochte, zumindest eine gewisse Scheinsicherheit versprach. So wuchs der ganz persönliche Turm eines jeden Einzelnen solange weiter empor, bis sich sein Ausmaß irgendwann nicht mehr überblicken ließ und sein undurchdringliches Gemäuer nur noch durch ein Unglück oder einen schweren Schicksalsschlag zum Einsturz gebracht werden konnte. Unweigerlich kam mir die Tarot-Karte Turm in den Sinn, die diesen Vorgang auf eindrückliche Weise beschrieb.
Mein Blick fiel auf die Silhouette meines Seelenführers. Er stand irgendwie entrückt da – unbeweglich, verklärt. Der Ring an seinem Finger schien ein Lichtsignal in den Kosmos auszustrahlen und seine Augen glühten wie zwei Laserstrahlen, die mit einer höheren Welt in Kontakt waren. Ich wollte ihn nicht stören, und so begann ich gedanklich noch einmal die verschiedenen Stationen meiner Turmbesteigung zu reflektieren. Obwohl ich mehr als froh darüber war, dieses hohe Bauwerk endlich bezwungen zu haben, schien in meiner Aufrechnung noch ein Stockwerk zu fehlen: „Verzeih meine Frage, Akron, aber sprach der Wächter nicht von einem siebenstufigen Weg, den es hier zu erklimmen gilt?“
Wächter: Mit etwas Übung wirst du entdecken, dass du mehr bist als nur der Verstand, der das alles von außen beobachtet. Dann kannst du durch die Glut deines Bewusstseins hindurchwachsen und brauchst dich nicht mehr länger nur von der einen oder anderen Seite deines mehrschichtigen Wesens aus zu betrachten. Dort kannst du dich mit deinem Geistwesen verschmelzen, das gleichzeitig innerhalb und außerhalb von dir ist. Weißt du noch, wo die Erkenntnis auf dich gewartet hat?
Träumer: Ja! Der alte Magus sprach von einer Schwelle, die von den Träumern von zwei verschiedenen Seiten her passiert werden musste.
Wächter: So kommen wir deiner Erinnerung schon ziemlich nahe. Von der einen Seite näherst du dich dem Wächter, der dich erwartet. Nun überleg dir mal, wie sich das Ganze aus Sicht des andern, sozusagen von der anderen Seite her, darstellt?
Träumer: Hmmm … vielleicht wartet da einer darauf, dass ein anderer kommt, dem er die Pforte öffnen kann.
Wächter: Exakt! Auf der Suche nach Erkenntnis hast du dir selbst das Bild des Wächters geschaffen, den du nicht suchen musst, sondern der dich findet, wenn die Zeit der Antworten gekommen ist.
Träumer: Wen? Mich?
„Oh ja“, lächelte er mich wissend an, „du hast dich nicht verzählt, es fehlt noch die letzte Stufe ins Licht. Dieses letzte Stück zur Erlösung muss von jedem Kandidaten in seiner Seele selbst errichtet werden.“
Ich schaute mich auf dem Plateau suchend um, erblickte aber nichts, was sich in geeigneter Weise als möglicher Baustoff anbot.
Akron grinste: „Doch nicht auf der materiellen Ebene …“ Ich spürte mich in eine goldene Flamme eingehüllt, die sich wie ein elektrostatisches Phänomen in seiner Hand entlud. Dann zog er an einem dicken Tau, worauf der weit ausladende Baum eines Hebekranes herüberschwang. Am Ende des Seiles hing ein aus Schilfrohr gefertigter Lastenkorb, der baumelnd über einer kleinen kreisrunden Öffnung zum Stehen kam, die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Mit bangem Blick starrte ich in diesen gähnenden Schlund, dessen Grund sich irgendwo in der Dunkelheit verlor. Mit stummer Gebärde wies mein Seelenführer mich an, in den Korb hineinzuklettern.
„Das ist nicht dein Ernst“, maulte ich wütend, „ich dachte, wir hätten diesen Unterweltscheiß jetzt endlich hinter uns. Nun verlangst du von mir, dass ich noch einmal in diesen Seelenmorast da unten eintauche?“
„Erinnere dich an den Stein des Sisyphus, der von der Spitze immer wieder ins Tal hinunterrollen muss, bis der Betreffende die Lösung des Rätsels kennt.“ Akrons Augen machten mir schnell deutlich, wie ernst ihm die Sache war: „Willst du deiner Erlösung begegnen, musst du gleichzeitig in die Höhe bauen und in die Tiefe graben. So wie jeder Baum, der mit seiner Krone in den Himmel ragt, nach unten noch einmal so lange Wurzeln hat, genau so hat auch der Turmbau einen Keller. Dort unten wirst du den Mörtel deines letzten noch zu errichtenden Stockwerks vorfinden. Das ist das Gesetz der Polarität. Solange du nicht erkennst, dass das eine die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich das andere entwickeln kann, hast du statt eines geschlossenen Ganzen immer zwei Seiten, die du isoliert voneinander betrachtest. Denn obgleich das Ziel am Ende in den geistigen Höhen thront, führt dich dein Weg gleichzeitig wieder hinab, in die Kellergewölbe dieses Turmes, direkt in Saturns finstere Höhle. Bevor die Seele rein und geläutert ist, muss sie zunächst durch einen tiefen Stein. Darum folge deinem inneren Cherub, er wird dein Licht auf dem Weg in die Finsternis sein ...“
Mond in Steinbock
Sünder
Neider, Pessimisten, verbitterte Menschen mit negativen Gefühlen und depressiven Stimmungen, die „schwarzen“ Mütter, die das Leben aus ihren Kindern heraussaugen (umgekehrt: die unabgenabelten Kinder, die sich im Mutterschoß festhaken), die gemästete Schlange, die das Blut ihrer Opfer aufleckt, die verschlingende Urmutter
Disposition
Der Schattenbereich von Mond im Steinbock und Mond im 10. Haus sowie disharmonische Mond/Saturn-Aspekte
Schuld
Die Palette ist groß: Neid, Verbitterung, Verhärtung, versteinerte Herzen, zuviel Gewicht auf Recht und Ordnung, unterdrückte Weiblichkeit und Verödung der Emotionen aus übertriebenen Pflichten, Zurückweisung von Gefühlen zur Vermeidung von Schmerz, Problematik in der Beziehung zur eigenen Mutter, Übergriffe und kompensierende Verantwortung aus der schmerzlichen Abgespaltenheit der inneren Gefühlsnatur
Strafe
Diese Hölle konfrontiert dich mit deinem (unverhältnismäßigen) Streben nach Unabhängigkeit von den Bedingungen der Natur, das sich der Hingabe an die fließenden Abläufe der Schöpfung entgegenstellt. Die Seele versteckt sich hinter einem schützenden Panzer, um sich vor den Angriffen zu schützen, die überall im Außen lauern. Sie verbirgt sich hinter der eigenen Angst, um nötige Ablösungsprozesse zu verhindern, und