Der Geist oder das, was ich für den Geist hielt, konnte nicht sprechen. Er seufzte nur, und dann begann der Bildschirm zu flimmern. Ich fühlte, wie sich in meinem Gehirn eine Vorstellung formte, die mit mir auf der Denkebene kommunizieren wollte. Aber ich konnte diese Vorstellung nicht finden.
«Hörst du mich, Akron?» flüsterte ich und klopfte an die Wand des Gehäuses: «Kann ich etwas für dich tun?»
Ein Muster formte sich auf dem Schirm, phosphoreszierend, aber undeutlich: Akrons auf Faustgröße digitalisiertes Gesicht. «Es gibt da etwas, das meinen Geist gefangenhält …», vernahm ich eine schwache Stimme, und ein inneres Glühen umfing Akrons flimmerndes Bild.
«Ist es dieses Buch? Dieses Buch im Regal?» hörte ich mich brüllen, denn einen Sekundenbruchteil tauchte mein Bücherregal am Bildschirm auf.
«Ja, ja, richtig … Es ist dieses Buch …» vernahm ich eine sanft erinnernde Stimme aus dem Computer-Inneren.
«Soll ich versuchen, dich da rauszuholen», sagte ich und klopfte an die Wand, «noch ist es Zeit …»
«Nein … um Himmelswillen», ertönte eine gedämpfte Stimme, «was glaubst du, was du da anrichten würdest, denn ich befinde mich in den unbewußten Schächten deines Hirns. Da ich gerade damit beschäftigt bin, die verdrängten Dateien in den verstaubten Regalen deines Unbewußten auf den Monitor deines Kurzzeit-Gedächtnisses zu schaufeln, habe ich mir erlaubt, dich zu kontaktieren. Aber im Moment ist unsere Verbindung nicht optimal … Du kannst mich nicht richtig visualisieren, stimmt’s?»
«Darf ich fragen, wer du bist?» Zwar konnte ich sein Bild nicht richtig empfangen, doch ich spürte deutlich, es war nicht Akron.
«Eine naive Frage», kam es postwendend aus den eingebauten Lautsprechern zurück, «denn die Antwort muß deinen Verstand verwirren. Genauso wie das Universum in viele verschiedene Perspektiven aufgeteilt ist, ist auch die Persönlichkeit ein Konglomerat von verschiedenen Selbst, die zahllose Ebenen durchwachsen, die nicht nur sind, was du bist, sondern auch das, was als Zukunft schon heute in dich eingepreist ist. Du bist erst am Anfang deiner Reise. Deshalb möchte ich mich dir als Geist deiner Zukunft beschreiben, das Wissen, dem du noch nicht begegnet bist.»
«Und wo kommst du her?» Der Monitor begann zu flimmern.
«Ich komme durch die Tür», säuselte die Stimme.
«Durch welche Tür?» wollte ich wissen. Das glühende Flimmern auf dem Bildschirm begann zu hüpfen, dann brach die Wellenbewegung ab.
«Wie gesagt», rauschte es in meinem Hirn, «überall dort, wo sich eine Perspektive mit einer anderen schneidet, entsteht eine Tür, durch die man in andere Welten eintreten kann. Oftmals ist es zwar keine Tür, sondern ein Spiegel, ein gespiegeltes Fenster, in dem man durch sein gespiegeltes Bild hindurchsehen kann, was dein dualer Verstand nur schwer verstehen kann. Hier versteckt sich die Tür hinter dem Regal.»
«Hinter welchem Regal?» Ich warf einen Blick auf das Regal: «Ich sehe keine Tür!»
«Du kannst die Tür nicht sehen, denn der Geist verdeckt die Tür. Geschlossene Türen sind hier unsichtbar», sagte die Stimme kichernd.
«Aber kannst du mir nicht wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt geben?» wagte ich schüchtern einzuwenden.
«Na gut, es ist die Lücke, die du verursacht hast, als du das geheimnisvolle Buch aus der Bücherreihe zogst.»
«Durch diesen Zwischenraum willst du hindurchgeschlüpft sein?» höhnte ich ungeschminkt.
«Eigentlich bin ich ja durch das Buch gekommen. Aber nachdem du das Buch aus der Reihe genommen hast, hat mich das Vakuum angesaugt, das das fehlende Buch in deinem Verstand hinterließ.»
«Von welchem Titel redest du?»
«Von deiner Reise in die Unterwelt!»
«Du lügst», zeigte ich mich ziemlich betroffen. «Dieses Projekt ist doch erst in der Entstehung begriffen. Das Ganze ist noch ungedacht; nur die Vorhölle ist abgeschlossen.»
Da wurde das Bild auf dem Monitor plötzlich scharf. Es war mein eigenes Gesicht, das mich lächelnd ansah und sprach: «Ja, jetzt hast du die Sache erfaßt. Hinter dieser Lücke beginnt deine eigentliche Reise!»
«Aber wie kann ich ein Buch aus dem Regal herausnehmen wollen, das noch gar nicht geschrieben worden ist?» entgegnete ich ängstlich.
«Die Frage lautet doch eher umgekehrt: Wie kann man ein Buch im Regal stehenlassen, das erst geschrieben werden will?»
Ich war verwirrt. «Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr!»
«Das Buch, von dem wir reden, ist dein zukünftiges Projekt, und das Regal, aus dem du es herausgenommen hast, dein bewußter Verstand. Deshalb mußte dieses Projekt aus der Aneinanderreihung deiner Alltagsgedanken herausgenommen werden, weil das, was du beschreiben möchtest, vom bewußten Verstehen gar nicht verstanden werden kann. Aus diesem Grund fiel das Buch aus dem Regal heraus und schaffte hinter sich den Raum, der deine Erinnerungen ansaugt. In diesem Sog bin ich jetzt aus der Tiefe zu dir gekommen, um dich zu fragen, ob du mir folgen willst?»
«Wohin?» Zitternd schaute ich mich um.
Die pulsierenden Linien verschwanden, das Geistergesicht nickte: «Zu den Quellen des Unbewußten!» Und dann sprang der große schwarze Wälzer mit einem riesigen Getöse aus dem Regal und ließ ein helles Rechteck dahinter erscheinen. Darin leuchtete das Porträt des Psychopompos aus «Dantes Inferno» auf. Es stellte einen Mann mit einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht im Schatten lag. Ich sah nur die roten Augen im Licht funkeln, als sich das Bild plötzlich bewegte und eine Stimme zu mir sprach: «Damit du dein Werk nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit deiner Seele nachempfinden kannst!»
Vor mir öffnete sich eine Tür. Kaum hatte ich die Schwelle überquert, als ich zu schrumpfen begann. Vor meinem inneren Auge spulte sich mein ganzes Leben ab. Ich folgte den Spuren meiner Entwicklung bis zum Moment der ersten Bewußtwerdung zurück, bis ich mich als ungeborenen Fötus empfand, der sich in den endlosen Gedanken auflöste. War ich zum bloßen Bild in mir selbst geworden, damit ich mich besser in mir selbst erkennen konnte, fragte ich mich, denn ich fühlte, wie sich in meinem Gehirn eine Vorstellung formte, die ihm in seine räumliche Sphäre folgte: Bestand eine Verbindung zwischen ihm und mir? Dieser Teil von mir hatte gar keine physische Gestalt, sondern war nur ein Lichtpunkt, der sich in seinem Hirn bewegte, und jetzt wurde mir auch klar: Ich war ein Teil dieser psychischen Energie, die in den Tiefen des Unbewußten gründelt, um das Unerkannte in neuen Symbolen zu finden. Ich war der von sich selbst abgespaltene Teil, der sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb seiner eigenen Wahrnehmung empfand.
«Erst wenn dein Verstand an den Grundlagen des rationalen Weltbilds zerschellt», hörte ich seine Stimme, «werden alle deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst dir alle deine Wünsche erfüllen …»
«Ich will hier raus!» kreischte ich mit sich überschlagender Stimme.
«Die einzige Türe, die hinausführt, führt nach innen», hörte ich meine innere Projektion zu mir sagen, «und indem du die Schwelle überschreitest, gehst du unangefochten an den Masken und Projektionen deiner