Ich schreibe von dem, was ich persönlich erlebt habe, ergo von dem hilflosen Unterfangen, das im Kosovo danach geschah und das in Teilen mit der Bezeichnung einer europäischen Außenpolitik versehen ist, die es gar nicht gibt – und deren Fehlen durch dieses Scheitern so schmerzlich spürbar wird, daß ich auf dem Balkan und im Angesicht von Europas Ohnmacht zu einem europäischen Föderalisten wurde, der das hilflose Agieren der Mitgliedstaaten gerne abgeschafft und einer handlungsmächtigen und legitimen Union, einem europäischen Bundesstaat, übertragen gesehen hätte.
Bericht will ich erstatten, um aus tiefem inneren Bedürfnis den außenpolitischen Sonntagsreden vom Aufbau der Demokratie in fernen Ländern zu widersprechen, als Gegengift zur oberflächlichen Flüchtigkeit journalistischer Momentaufnahmen und zu dem Unfug, der unserer unbekümmerten Ignoranz entspringt. Dieses also ist das Resümee einer kurzen, aber dichten Phase meines Lebens, damit ich sie abschließen und von mir lösen kann.
Eine Parabel auf den gewissenlosen Umgang mit dem allgemeinen Gut will ich schreiben: Das Kosovo ist mir das Exempel und die reinste Form dieses Zustandes, die mir bisher im Staatsdienst unter die Augen gekommen. Die Namen und Orte sind immer andere, doch die Strukturen und Vorgehensweisen, das Denken und die Kultur der Korruption gleichen einander über den Erdball hinweg. Somit mögen vor allem jene diese Reportage lesen, die nie haben hinnehmen wollen, daß auch in unserem so fortschrittlichen Zeitalter der Demokratie und Menschenrechte überhaupt nur wenige Staaten vergleichsweise gerecht, sicher und geordnet, freiheitlich und wohlhabend bestehen, während viele andere in dem immergleichen Morast aus Lügen, Dummheit, Habgier und Gewalt täglich aufs Neue versinken, ihre Bürger eines Lebens in Anstand und Freiheit beraubend – so daß sie ihr Heil in Flucht und Wanderung suchen oder oft genug selber in Gewalt abgleiten. Viele begreifen erst jetzt, in Zeiten staatlicher Stümperei bei der Seuchenbekämpfung, daß Freiheit nicht selbstverständlich ist. Sie ist kein Geschenk von oben, sondern die beständige Forderung von unten.
Aber mein Antrieb, ins Kosovo zu gehen, war ein anderer als der Kampf um politische Freiheit. Mir ging es um persönliche Freiheit – oder was ich dafür hielt: Was mich vor allen anderen Dingen antrieb, zu jener Zeit ins Kosovo zu gehen, war die gänzlich profane Notwendigkeit meiner Flucht aus dienstlicher Langeweile und bürgerlicher Geborgenheit; meine längst abgestorben geglaubte, höchstpersönliche Lust auf Abenteuer und eine ferne Erinnerung an Karl Mays Land der Skipetaren.
Willkommen im Kosovo, dem toten Winkel Europas.
Kaisergebirge / Tirol im März 2021
1 Unter Soldaten
Schon auf den ersten Blick war der Flugsteig zu erkennen. Hinter der letzten Sicherheitskontrolle wimmelte es von Feldgrau. Österreichische Gebirgsjäger, an deren Feldmützen das Edelweiß prangte. Ich schien der einzige Zivilist auf diesem Flug nach Priština zu sein. Die Soldaten nahmen keine Notiz von mir. Ihre Seesäcke hatten sie bereits verladen, und nun standen sie in Grüppchen beisammen und schwatzten. Einige telephonierten; früher hätte man geraucht. Nun erst wurde mir bewußt, daß ich im Begriff stand, mich an einen gefährlichen Ort zu begeben. Einen Ort, den man mit sechzehntausend Mann – zwei Divisionen – militärisch zu sichern für nötig befand. Dieser Umstand und die Erinnerung an die eigene Militärzeit belebten meinen Geist, der sich in meiner alten, zuletzt immer mehr in Routine versinkenden Berufstätigkeit in Frankfurt kaum noch hatte regen wollen.
»Ist das der Flug nach Priština?«
Ich fragte den mir am nächsten befindlichen Gebirgsjäger, einen etwas zu kurz geratenen, stämmigen Jugendlichen mit rundlichem Kopf und knappgeschorenen, blonden Haaren. Ich hatte zwar keinen Zweifel, daß dies der Flug nach Priština sei, aber zu gerne wollte ich ein Gespräch mit einem der Soldaten anfangen. Er nickte einmal leicht mit seinem Rundschädel und blickte abweisend aus kleinen, engstehenden Augen an mir vorbei.
»Sie fliegen auch hinunter ins Kosovo?«
Die nächste überflüssige Frage. Er nickte noch einmal.
»Wie lange werden Sie dort sein?«
»Vier Monate.«
»Darf ich fragen, wo Sie da eingesetzt sind? Ich selber werde in Priština arbeiten, für die EU.«
»Wir Österreicher stehen im deutschen Sektor in der Nähe von Orahovac. Camp Casablanca.«
»Und was machen Sie da?«
»Ich glaube nicht, daß Sie das interessieren müßte.«
Gespräch beendet. Er hatte ja recht, und ich hatte mich benommen wie der dümmste Grünschnabel. Als ob man einen fremden Soldaten nach seinem Auftrag fragen könne – er durfte es mir gar nicht sagen, das wußte ich als Offizier der Reserve selber allzugut. Aber so groß waren meine Spannung und Ungewißheit, daß ich mich zu diesen kindischen Fragen hatte hinreißen lassen.
Erst Monate später lernte ich, daß einem im Kosovo zumindest in kulinarischer Hinsicht nichts Besseres widerfahren konnte als das Offizierkasino von Camp Casablanca. Denn auch die Schweizer waren dort stationiert, und regelmäßig absolvierten eidgenössische Köche von internationalem Rang ebendort im Offizierkasino ihre Wehrübungen und tischten auf, was ihre Künste hergaben.
Über einen langjährigen Freund kam ich später einmal in den Genuß der Gaumenfreuden von Camp Casablana. Er hieß Oberleutnant Ludwig Harnagel, war ein deutscher Heeresoffizier und eine Zeitlang in der Nähe von Camp Casablanca stationiert. Er war Infanterist und gehörte zur Führungsreserve eines Bataillons, das bei einer Verschlechterung der Lage aus ansonsten anderweitig eingesetzten Einheiten zusammengezogen werden konnte. Im Friedensdienst jedoch sollte Harnagel ehemalige kosovarische Freischärler zu Unteroffizieren der künftigen regulären Armee der Republik Kosova machen. Sein Schwerpunkt war die Ausbildung an Handfeuerwaffen, mit denen seine Zöglinge vermutlich bereits aus früherer Zeit recht gut umgehen konnten.
So kam es, daß er mich im Frühsommer zu einem deutschamerikanischen Vergleichsschießen einladen konnte, das er in der Nähe von Camp Casablanca organisierte. Dazu ließ er mich in aller Form über seinen nationalen Vorgesetzten, einen im KFOR-Hauptquartier tätigen Oberst der Luftwaffe, für eine nur einen Tag währende Wehrübung heranziehen. Vorsorglich hatte ich ohnehin einen Feldanzug ins Kosovo mitgenommen, man konnte ja nie wissen. Meine Kollegen im Büro staunten nicht schlecht, als ich den Rock, wie wir sagten, eines Freitags zur Mittagspause anzog und mich im Flecktarn von ihren fragenden Gesichtern verabschiedete.
»Ich fahre zu einer Schießübung.«
Das sagte ich mit betonter Nonchalance und sprang in meinen Dienstwagen, einen leichtgepanzerten Terrano in metallischem Hellblau.
Der Schießplatz, auf dem ich zwei Stunden später unter bleicher Nachmittagssonne und mit der bis zum Horizont reichenden Staubwolke meiner Fahrspur im Rücken eintraf, war völlig improvisiert. Die Begrenzungen der Schießbahn links und rechts waren durch Wimpel markiert, an ihrem Ende stand ein halbes Dutzend Schießscheiben, und der Schießstand selber war nichts anderes als ein Wiesenstück, mit dem für solche Zwecke üblichen, bei Dunkelheit fluoreszierenden Band abtrassiert, wie es im Jargon heißt. Ansonsten war keine weitere Vorkehrung getroffen worden. Zahlreiche staubverkrustete Militärfahrzeuge standen quer zur Fahrbahn aufgereiht entlang der Schotterpiste, die mich zu dem Gelände führte. Ich parkte zwischen einem Dingo-Panzerwagen der Bundeswehr und einem amerikanischen Jeep. Nicht ohne Befriedigung stellte ich fest, daß mein Wagen das einzige Zivilgefährt weit und breit war.
Das Grenzgängertum