Hatte der unbekannte Sprayer das gemeint? Er hatte allein die mittlere Tafel besprüht, die mit den Namen aus dem Zweiten Weltkrieg. Links und rechts konnte Olivia kein Tröpfchen Farbe entdecken. Also eher eine Anti-Nazi-Aktion. Naheliegend, die extreme Rechte hatte in den letzten Jahren mächtig Zulauf gehabt, vor allem in den östlichen Bundesländern, aber auch hier im Nordwesten gab es immer mehr Aktivitäten. Die neuen Nazis beriefen sich immer ungenierter auf die alten, und von denen hatte mindestens einer jahrelang mit auf dieser Ehrentafel gestanden: Johann Niemann, der Kommandant des Konzentrationslagers Sobibor.
Vor einiger Zeit war das aufgefallen, es hatte Kritik gegeben, und sein Name war mit einer getönten Plexiglasscheibe überdeckt worden, die auf eine separate Tafel verwies, auf der die Verbrechen dieses Völleners erläutert wurden. Weder der überdeckte Name noch die Infotafel waren besprayt worden. Wollte der unbekannte Täter damit andeuten, dass auch alle anderen Weltkriegsteilnehmer in seinen Augen Mörder waren? Es gab Leute, die das so sahen – »Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich’.« Die meisten aber differenzierten doch danach, wer für welche Sache kämpfte, mit welchen Mitteln, ob unfreiwillig oder aus Überzeugung. Oh ja, das Leben war kompliziert. Das Wort »Mörder« allein wurde dem nicht gerecht.
Genug davon. Olivia schickte drei Fotos an die Redaktion, wartete die Bestätigung von Marco ab und setzte sich den Helm wieder auf. So, was jetzt? Noch ins Fitnessstudio? Eigentlich war das Wetter zu gut dafür. Vielleicht später am Abend. Erst mal zurück nach Oldenburg und einen Abstecher zum Jachtklub machen, nach ihrem Boot schauen, vielleicht Leute treffen, bisschen klönen. Sie startete ihre Maschine, riss kurz das Gas auf. 145 Pferdestärken brüllten durch das halbe Dorf. Ups! Schnell legte sie den ersten Gang ein, wollte lossprinten, musste aber erst einen Kleinbus vorbeilassen, der Vorfahrt hatte. Der Bus war mit Werbung beklebt, drinnen saßen lauter Halbwüchsige in bunten Fußballtrikots. Die Jungs starrten sie aus großen Augen an, teils ungläubig, teils bewundernd und neiderfüllt. Waren die Burschen schon alt genug für den Mopedführerschein? Bis zu einer V-Max würden sie noch ein paar Jahre warten müssen. Gott sei Dank.
Sie überholte den Kleinbus bei der ersten Gelegenheit, gondelte durch Papenburg zurück an den Küstenkanal und bog nach links auf die Bundesstraße ein. Diesmal hatte sie mehr Gegenverkehr; nach ein paar krassen Überholmanövern ließ sie es sein und blieb hinter einem Tieflader, der seinerseits so schnell fuhr, wie es die Straße gerade noch zuließ. Seine Ladung bestand aus einem rostigen Seecontainer. Kein Spaß, heutzutage für eine Spedition zu arbeiten, dachte Olivia, ständig den Zeitdruck im Nacken und den Disponenten am Handy. Sie als Redakteurin stand normalerweise auch unter ständigem Zeitdruck. Aber ihr machte das nichts, sie war schnell im Denken und flott im Schreiben. Nicht so wortverliebt wie Marco, der jeden Satz viermal durchkaute.
In Oldenburg hatte schon der Feierabendverkehr eingesetzt. Sie brauchte eine Weile bis zum Jachtklub, wo ihr Boot lag. Der lange Schwimmsteg war in einem Seitenarm der Hunte vertäut, unterhalb einer Fischtreppe und seitlich der Schleuse, dort, wo aus dem Küstenkanal ein Fließgewässer wurde. Die Ufer waren dicht bewachsen. Ebbe und Flut reichten bis hierher, in die Mitte der Stadt; so war das binnenländische Oldenburg mit allen Ozeanen und Randmeeren dieser Welt verbunden. Ein Gedanke, der sie faszinierte. Sie grüßte flüchtig ein paar ältere Vereinskollegen, die ihr unverhohlen nachglotzten, während sie über den Verbindungssteg tänzelte. Olivia sah es genau, sparte sich aber den Mittelfinger. Diese alten Säcke hatten das Sagen im Verein und konnten ihr jede Menge Ärger machen, wenn sie denen dumm kam. Das war es ihr nicht wert. Sie wollte nur einen Liegeplatz für ihr Boot; die Welt verbessern, das sollten andere besorgen.
Der Schwimmsteg war ewig lang, ein Element folgte auf das andere. Ihr Boot lag ganz am Ende des Steges; Neulinge mussten sich hinten anstellen, wenn sie überhaupt einen Liegeplatz bekamen. Die alten Kämpen gingen nicht gerne weit zu Fuß. Olivia war inzwischen zwar seit acht Jahren Vereinsmitglied, hatte aber nie drauf gedrungen, dementsprechend weiter in Richtung Vereinsheim zu rücken; außen am Steg lag sie nicht in einem engen Schlauch mit hinterlistigen Steinen an der Böschung gegenüber, an denen sie sich bei Niedrigwasser den Propeller verhunzen konnte, sondern im freien Wasser, direkt am breiten Huntebecken mit Blick auf die alte Cäcilienbrücke. Ihr Boot war eine Cobalt 253, keine acht Meter lang, aber mit 250 PS, und führte den Namen Sting. Okay, sicher gab es Rennboote, deren spitze Form noch mehr an einen Stachel erinnerte, aber ihres kam schon ziemlich dicht heran. Offenes Cockpit mit Bimini-Verdeck, Schlupfkajüte, Steuerstand rechts, ultrabequeme Sessel, Liegefläche achtern. Und Getränkehalter. Herrlich, wie sich die alten Männer die Mäuler darüber zerrissen! Aber wenn sie den Volvo Penta anwarf, hörte sie nichts mehr davon. Und wenn sie beschleunigte, spürte sie die gierigen Blicke der Kerle mal nicht auf ihrem Hintern, sondern auf dem Heck ihres Bootes. Kurze Inspektion: An Bord war alles in Ordnung. Sie startete die Maschine und warf die Festmacher los, erst achtern, dann vorne. Die Ebbe lief bereits und Sting lag mit dem Bug stromaufwärts, das empfahl sich wegen des ständig von der Fischtreppe her fließenden Oberwassers. Also löste sie die vordere Spring zuletzt. Die Strömung drückte den Bug vom Steg weg, genau wie berechnet. Sie schob den großen, verchromten Hebel sanft nach vorne. Einkuppeln und Gas geben war eins. Federleicht löste sich ihr Boot vom Steg und beschrieb einen eleganten Bogen. Hach, war das schön!
Auf dem Warteplatz vor der Schleuse lag ein großes Binnenschiff, hoch mit Containern beladen. Olivia passierte das Schiff in sicherem Abstand. Am Heck hing die niederländische Flagge. Herinnering hieß das Schiff und kam aus Groningen. Viele Binnenschiffe waren in den Niederlanden beheimatet.
Die Strömung der Ebbe war deutlich spürbar, das Wasser aber stand noch hoch. Kein Problem, die Durchfahrthöhe der Hubbrücke reichte jederzeit für ihr flaches Boot. Das Ende dieser alten Brücke war besiegelt; demnächst würde sie durch einen Betonbau ersetzt werden, so wie vor vielen Jahren die Amalienbrücke am anderen Ende des Stadtkanals. Noch aber konnte sie das stählerne Baudenkmal von unten bewundern.
Langsam tuckerte sie zwischen den Spundwänden hindurch, spürte die gebändigte Kraft des Motors in den Vibrationen des Ruderrades. Ungeduld auch, aber das war ihre eigene. Beim Stadthafen bog sie nach rechts ab. Zwischen ihr und dem Unterlauf der Hunte lag als letztes Hindernis nur noch die Eisenbahn-Klappbrücke. Ein vertracktes altes Ding, das sich an heißen Tagen wie diesem gerne mal verklemmte. Zwei rote Warnlampen leuchteten ihr entgegen. Mit den Augen nahm sie Maß: Reichte die Durchfahrthöhe auch ohne Öffnung?
Eine der roten Lampen erlosch; die Klappbrücke begann, sich zu heben. Hatte man sie vom Stellwerk aus bemerkt? Ach nein, auf dem Warteplatz vor der Brücke machte sich gerade ein weiteres Binnenschiff startklar, hatte die Öffnung wohl über Funk angefordert. Gute Gelegenheit, dachte Olivia und gab Gas. Sting hob seinen Bug und schob ihn auf die eigene Welle. Flott steuerte sie ihr Boot auf die Durchfahrt zu. Noch leuchtete zwar die eine rote Lampe, aber sie brauchte nicht auf Grün zu warten, die Durchfahrthöhe war bereits mehr als groß genug, und das lahme Binnenschiff hatte noch nicht einmal auf Schleichfahrt beschleunigt. Mit ihrem Speed war sie durch die Brücke, ehe sie jemand bemerkte.
Irrtum, stellte sie fest, kaum, dass sie das Rotlicht passiert hatte. Im toten Winkel auf der anderen Brückenseite lauerte sachte dümpelnd ein Polizeikreuzer. Worauf? Auf Verkehrssünder wie sie. Schon beschleunigte das schwere blaue Stahlboot und schob sich in einem Bogen längsseits, nicht weniger elegant als vorhin die Sting beim Ablegen. Olivia fletschte die Zähne und knurrte vor unterdrückter Wut. Wut auf sich selbst. Schon wieder in die Falle getappt! Lernte sie denn nie etwas dazu? Wenigstens kannte sie das Verfahren inzwischen, behielt Kurs und Geschwindigkeit bei, wie die Beamten es von ihr erwarteten; das Polizeiboot passte sich genau an und fuhr neben der Sting her, weniger als einen Meter entfernt. Zwei stämmige Uniformierte stiegen zu ihr herüber, fast gleichzeitig, sodass ihr Boot seitlich tiefer eintauchte und sie gut zu tun hatte, ihren Kurs stabil zu halten und eine Kollision zu vermeiden.
»Guten Tag, Bootsführerschein und Schiffspapiere bitte.« Der ältere der beiden trug einen ausladenden Schnurrbart. Er tippte sich an die Mütze und stellte sich vor. »Hauptkommissar Seifert, Wasserschutzpolizei. Sie wissen, warum wir an Bord gekommen sind?«
Olivia nickte. »Tut mir leid, ich war wohl