Daran denkt Mieke jetzt, während der Bürgermeister sie verärgert mustert. »Ja, ich weiß, dass Sie befreundet waren. Bitte stören Sie sich nicht an einzelnen Worten oder Formulierungen. Polizeiroutine. Seit wann waren Sie Freunde? Und wie haben Sie sich kennengelernt?«
Bachmann sinkt in seinen ledernen Schreibtischsessel, er hat sich wieder im Griff. Befreundet sei man seit uralten Zeiten. Man sei sich auf dem Großen Meer beim Segeln begegnet, der junge Kommunalpolitiker und der ebenso junge Kaufmann, und habe auf Anhieb Sympathie füreinander empfunden. Auch die Frauen hätten sich gut verstanden.
»Hatte Herr Ukena Feinde?«
»Feinde?« Bachmanns Augenbrauen springen hoch, er zieht das Wort in die Länge. »Albert Ukena war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Als solcher tritt man gelegentlich auch auf fremde Füße, man macht sich nicht zwingend überall Freunde. Man hat bestimmt auch Neider. Vielleicht sogar viele. Aber Feinde? Feinde, die zu Mördern werden können? Nein. Albert Ukena hatte keine Feinde. Zumindest weiß ich von keinen.«
Es klopft. Die Vorzimmerdame bringt den frischen Tee. Sie stellt ihn auf dem Schreibtisch ab. Bachmann dankt, Frau Vossen nickt stumm und verschwindet. Der Bürgermeister erhebt sich federnd. Er bedient Mieke, danach sich selbst. Sie beobachtet ihn. Seine Hände sind ruhig, Bachmann wirkt sehr selbstsicher.
»Haben Sie eine Erklärung für die Tat?«, fragt Mieke.
Die Hände des Bürgermeisters kommen einen kurzen Augenblick zur Ruhe. War da ein Zucken? Eine Erschütterung? Vielleicht doch nicht. Sie blickt auf. Der Mann ist vollkommen gefasst.
Mit gemessenem Schritt geht Bachmann zurück zu seinem Stuhl. »Ich bitte Sie, Frau Janßen. Kann man für einen derart bestialischen Mord eine Erklärung haben?«
Mieke trinkt, dann beugt sie sich vor. »Immerhin muss es ja ein Motiv geben. Niemand sticht ohne Grund einen Menschen nieder und schneidet ihm anschließend die Augen aus dem Kopf.«
»Ja. Eben. Da haben wir’s doch!« Der Bürgermeister wird lebhaft. »Für eine solche Tat gibt es keinen vernünftigen Grund. Ein Irrer ist das, ein Psychopath.«
Mieke geht der Bericht der Gerichtsmedizin durch den Kopf. Der war dürr und emotionslos. Tiefer Stich unter das Brustbein direkt ins Herz. Zielgerichtet angesetzt, unmittelbar tödlich. Stoß führt durch den Herzbeutel, teilt die Pulmonalklappe und tritt an der Aorta wieder aus. Klinge schmal und lang, stilettartig. Mit großer Kraft geführt. Auch das Ausstechen der Augen wird trocken beschrieben. Postmortal geführte Sichelschnitte durch Lederhaut und Aderhaut. Wundränder lassen Nutzung derselben Klinge vermuten. Öffnung der Glaskörper, dadurch Ausspülung der Linsen.
Da spricht Bachmann wieder. Seine Stimme ist jetzt voller Wohlwollen. Glatt, fast gönnerhaft kommen ihm die Worte über die Lippen: »Ich kann Ihnen für Ihre Arbeit nur Glück wünschen, Frau Janßen. Wenn ich mir vorstelle, dass da draußen ein durchgeknallter Mörder frei herumläuft, wird mir ganz flau. Nicht nur als Bürgermeister dieser Stadt. Auch als Vater und Ehemann. Also finden Sie den Täter, decken Sie die Hintergründe auf. Möglichst rasch.« Bachmann erhebt sich, für ihn ist das Gespräch zu Ende.
Mieke bleibt sitzen. »Diese Kontroverse soeben im Rat. Ich fand das sehr interessant.«
Der Bürgermeister erstarrt. Seine Stimme wird frostig. »So? Aha!«, sagt Bachmann schroff, es klingt fast wie ein Fauchen. Er setzt sich wieder. Dann wird ihm bewusst, dass er im Begriff ist, aus der Rolle zu fallen. »Bitte entschuldigen Sie, das ist noch der Ärger über diesen Auftritt eben, Sie haben ihn ja erlebt. Ich arbeite ganz gewiss nur zum Wohle dieser Stadt. Aber Undank ist der Welt Lohn. Und wie man es macht, ist es falsch.«
Darauf geht die Kriminaloberkommissarin nicht ein. »Heißes Eisen, dieses Thema«, stellt sie nüchtern fest.
»Dieses Thema?«
»Der Verkauf des ehemaligen Kasernengeländes«, hilft Mieke Janßen nach. Die städtischen Diskussionen hierzu hat sie nur am Rande verfolgt, sie waren langatmig und ermüdend, auch in ihrer Emotionalität, die Sache interessierte sie nicht besonders.
Bachmann hat die Beherrschung wiedergefunden, aber seine Freundlichkeit ist wie fortgeblasen. »Das alles ist Stadtgeschichte, glauben Sie mir. Vielleicht kein sehr glorreiches Kapitel, aber es ist vorbei. Ich verstehe Ihr Interesse daran als rein privat. Wie denn auch anders? Für interessierte Bürger empfehle ich die Teilnahme an Sitzungen, die in der Regel öffentlich sind. Ob sie auch korrekt informieren, sei dahingestellt. Sie selbst haben ja heute ein Gegenbeispiel erlebt.«
Bachmann erhebt sich wieder und Mieke steckt ihren Notizblock ein. Sie hat keine Zeile darauf geschrieben.
Der Bürgermeister sieht sie unten das Rathaus verlassen. Er sieht auch, dass sie neben seinem neuen Benz ihren Schritt verlangsamt und das Fahrzeug aufmerksam betrachtet. Er wundert sich nicht darüber. Ist ja auch wirklich beeindruckend. Ein Hingucker. Doch plötzlich beschleicht ihn das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Hätte er auf die Frage zur ehemaligen Kaserne anders antworten sollen? Gelassener? Habe ich damit unnötig Argwohn erregt? Er schüttelt den Kopf. Ach was! Eben genau nicht. Forsches Auftreten macht nicht selten Eindruck. Man muss sich auch nicht alles bieten lassen.
In der Polizeiinspektion stürzt sich Mieke auf die Arbeit. Über das Gespräch mit Bachmann fertigt sie ein Gedächtnisprotokoll an. Auch den Tumult im Finanzausschuss hält sie mit ein paar Sätzen fest. Das Stichwort »Verkauf Kasernengelände« versieht sie mit drei Ausrufungszeichen. Dann vertieft sie sich in die bisher vorliegenden Papiere. Noch einmal liest sie die Aussage des Zeugen Schmalfuß und studiert den Bericht der Gerichtsmedizin aus Oldenburg. Und immer wieder geht ihr das Gespräch mit dem Bürgermeister durch den Kopf. Der Mann ist ihr zu glatt. Irgendetwas ist da, etwas stimmt da nicht. Aber dann zwingt sie ihre Gedanken auf den Mordfall Ukena. An den Psychopathen kann sie nicht glauben. Obwohl vieles dafürspricht, dass der Mörder pervers ist, muss das einen nüchternen, kalkulierten Hintergrund nicht ausschließen. Vielleicht sind diese widerliche Augengeschichte und das Tape um den Kopf ja auch nur Ablenkung zur Verschleierung von Spuren. Man soll glauben, der Täter habe nicht alle Tassen im Schrank. Ein Verrückter, der Freude daran hat, an seinem Opfer herumzuschnippeln.
Banafsheh Schariatmadari und Frerich Frerichs kommen untergehakt in Miekes Büro, sie lachen, die beiden Oberkommissare haben gute Laune. Es ist schon spät, aber die Kollegen wirken putzmunter.
»Lasst mich mitlachen«, schmunzelt Mieke. »Ich vermute einen guten Witz?«
Frerich schüttelt grinsend den Kopf. »Fatalismus! Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, deshalb tue ich nichts. Bei Banafsheh ist es ganz anders. Sie tut nichts, weil sie nicht weiß, wo sie anfangen soll.«
Die beiden setzen sich. Frerich hat unter anderem eine Brandstiftung am Hals, Banafsheh ermittelt in einer Sache, die sehr nach Schutzgelderpressung riecht. Das muss jetzt alles warten, aber nicht zu lange. Eigentlich gar nicht, es soll ja auch damit irgendwie weitergehen. »Wie läuft es bei euch?«, fragt Mieke, nicht nur der Form halber.
»Ich lerne gerade viel über die organisierte Kriminalität in Ostfriesland«, sagt Banafsheh trocken.
»Mein mutmaßlicher Brandstifter ist auch organisiert. Aber nicht besonders gut«, ergänzt Frerichs mit schrägem Grinsen. Kriminalistenalltag.
»Mit anderen Worten, euch ist langweilig«, stellt Mieke trocken fest. »So wie mir. Und wer von euch möchte jetzt mit Jonte tauschen?«
Frerichs fährt hoch, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. »Was denn, Urlaub machen? Pfui Spinne! Da müsste