»You make my day, Monsieur Fett. Auf zum Kaffee, sonst hast du schlechte Laune. Und lass uns bald mal das Weihnachtsprogramm besprechen.«
»Du kennst mich, immer auf den letzten Moment. Ciao, Bella. Wir telefonieren.« Fett legte auf und dachte an Theresa Rosenthal, Mordkommission Köln, mit der er einen Fall gemeinsam gelöst hatte, an das gemeinsame Lachen. Er atmete tief ein, schaute in den Spiegel, prüfte die Rasur, die grauen Haarsträhnen und verdrängte die Grübeleien. In der Küche füllte er frisches Wasser in die Kaffeemaschine. Marmelade, Vollkornbrot, Mineralwasser. Die Kaffeemaschine mahlte drauf los. Heute kein Befehl zum Entkalken, Reinigen, Schale Leeren. Er hasste die Befehle der Kaffeemaschine und sehnte sich nach der alten Filterkaffeemaschine zurück. Fluch der Technik.
Die Lage des Landes
Um 7.30 Uhr war Fett im neuen Präsidium in Aachen-Brand, dicht bei der Automeile und der Autobahnauffahrt auf die A44. Lagebesprechung, neueste Infos vom Innenministerium. Rüschendonk, Leitender Kriminaldirektor, wollte alle Kommissariate gemeinsam betanken. Im Besprechungsraum traf Fett auf die Kollegen. Er setzte sich in die letzte Reihe. Schmelzer war wieder zu spät. Vom Steppenberg nach Aachen-Brand musste er über den Außenring fahren. Der war morgens zu. Oder er hatte einen Termin bei der Klassenlehrerin von Sohn Justus, der gerade auf dem Kaiser-Karls-Gymnasium eingeschult worden war. Wieder war Schmelzer bei der Lehrerin an eine überzeugte Veganerin geraten, humorlos und mit Lastenfahrrad. Die Chemie würde er nie hinbekommen.
»Morgen, Kolleginnen und Kollegen«, rief Rüschendonk in die Runde. Alle murmelten etwas, das nach »Morgen« oder »Moin« klang.
Rüschendonk klopfte auf das Mikro, die Gespräche verstummten. Mit hartem Blick fixierte er die Frauen und Männer vor sich. Er war bekannt für knackige Ansagen. »Vom Innenministerium Bund und Innenministerium Land über BKA und LKA kommt folgende Lageeinschätzung zu mehreren Gefährdungspunkten. Vertraulich. Brauche ich nicht zu erwähnen. Für uns gibt es Aspekte, die mit Blick auf Aachen bedeutsam sind. Erstens sind wir eine Grenzstadt. Offene Grenzen zu Belgien und den Niederlanden. Zweitens sind wir Universitätsstadt. Knotenpunkt für Strömungen des linken und partiell identitären Lagers. Drittens haben wir mit rechtsradikalen Gruppierungen Erfahrungen. Denken Sie an die Wiking-Jugend bei Stolberg. Viertens sind wir verantwortlich für Hambach. Fünftens haben wir im April 2019 die erste europaweite Fridays for Future-Demo abgewickelt. Sechstens. Wir widmen uns ungelösten Fällen mit neuen Methoden. Die ungeklärten Morde können durch neue Methoden bei der DNA-Analyse geklärt werden.« Er schaute auf seine Kollegen und fuhr fort. »Nun zu den einzelnen Punkten, die ich Ihnen vortrage, damit sie bei aktuellen Fällen diese Folie drüberlegen können. Wir beobachten neue Flüchtlingsrouten. Die Lage in den Camps in Griechenland und auf den Inseln ist katastrophal. Zum Winter erreicht uns eine erste Welle, im Frühjahr steigt die Zahl. Es werden nicht nur Flüchtlinge eintreffen. Auch Terroristen, Folterknechte, Personen, die keine Ahnung vom Grundgesetz, Deutschland, Bildung haben. Minderjährige und solche, die sich als Minderjährige ausgeben. Wir müssen außerdem die regionale Salafistenszene im Blick behalten, das sind die mit den kurzen Hosen und langen Bärten. Zum Teil im Umfeld der Hochschule.« Er wechselte das Blatt und kam zum nächsten Punkt.
»Zweitens. Im Unispektrum tummeln sich identitäre und linksextreme Gruppen. Die Identitären haben Kontakt zu alten Nazis. Kollege Fett und Kollegin Ventzke vom Staatsschutz können ein Lied davon singen. Wir beobachten zunehmend Aktivitäten. Aggressives Auftreten in der Hooliganszene, Militanz gegen linke Gruppen, gezielte Provokationen gegen grüne und linke Politiker bis hin zu Listen mit deren Namen und Adressen. Die linksautonomen Gruppen verbünden sich zunehmend mit den Aktivisten in Hambach und suchen den Kontakt zu Fridays for Future. Als Trittbrettfahrer springen sie auf den Umwelt- und Klimazug auf, infiltrieren die Organisationen und drehen sie um. Ziel: Abschaffung unseres Systems, unserer Demokratie, Anarchie und irgendeine Form von Sozialismus, die keiner bis jetzt gesehen hat.« Manche Kollegen nickten zustimmend. Sie hatten Erfahrung mit Hambach und waren geschockt über die Gewalt und Brutalität. Rüschendonk fuhr fort: »Die Linksextremen nennen sich verniedlichend Aktivisten, sind ultrabrutal und gewaltbereit, vermischen sich mit den Klimaclowns, Extinction Rebellion, und legen es systematisch auf Rechtsbrüche an. Ziel: Störung des Rechtsempfindens der Bürger. Die Bürger sollen das Zutrauen in den Staat verlieren. Die Gesellschaft soll sich radikalisieren, über Klimaschutz, Klimaflüchtlinge und Kapitalismuskritik wollen sie den Systemwechsel erreichen. Medial stehen sie besser da als die Rechtsradikalen. Die Linken verfügen über Sympathisanten auf allen Ebenen. Der Kampf gegen rechte Gruppen verdeckt den Extremismus der Linksextremen. Das alles finden Sie im studentischen Umfeld mit Ausfransungen zu den Antifaschisten, die beim 9. November an die Reichspogromnacht erinnern und zugleich BDS unterstützen, diesen antisemitischen Verein, der Israel von der Landkarte verschwinden lassen möchte. BDS hat Kontakte in die Friedensszene und in die Kulturszene. Wir müssen bei Veranstaltungen dieser Organisation mit dem Verbrennen von Israelflaggen rechnen. Da schreiten wir sofort ein. Wir dulden keinen Antisemitismus, der unter dem Deckmantel der Israel-Kritik und der Meinungsfreiheit in die Öffentlichkeit drängt. Verstanden?« Die Leitungskräfte nickten.
Rüschendonk fuhr fort: »In Hambach erwarten wir im Frühjahr neue Aktivitäten. Die Linksextremen brauchen Öffentlichkeit wie Fische das Wasser. In der Politik ist vor dem Kohlekompromiss keine klare Linie zu erkennen. Das werden unsere Freunde ausnutzen. Sie werden auch auf die Dörfer bei Erkelenz ausweichen, falls Hambach nicht abgebaggert wird. Die Militanz wird zunehmen. Das Megathema Klima spielt ihnen in die Hände. Die Radikalität in der Berliner Szene wird in andere Städte überschwappen: Anschläge auf SUVs, Blockade von Kreuzungen und Flughäfen, militante Tierschützer, militante Baumschützer, militante Radfahrer. Für den Ausbau des Flugplatzes Aachen-Merzbrück erwarte ich Störungen aus der militanten Umweltszene. Sollte der Staatsschutz auf der Agenda haben. Und bei vielen Protestformen: Instrumentalisierung von Kindern nicht zu vergessen. Der Zweck heiligt die Mittel. Lückenlose Aufklärung und Beweisführung ist wichtig, sonst sitzen wir auf der Anklagebank.«
»Sitzen wir eh!« Ein Zwischenruf von Reinhard Fuchs, Leiter der Einsatzhundertschaft.
Rüschendonk griff das auf: »Kollege Fuchs, Ihren Frust kann ich verstehen. Habe selbst jahrelang eine Einsatzhundertschaft geführt. Wir vertreten das Recht und werden uns nicht provozieren lassen. Dokumentationstrupps immer dabei. Klare Ansagen, keine Gewalt, wir tragen die Damen und Herren Umweltschützer aus dem Wald, wenn es sein muss. Damit komme ich nochmal zu Fridays. Zurzeit sind die Demos friedlich. Das kann sich schnell ändern. Wir haben Informationen über die Verbindung zwischen Fridays, Schwarzem Block, Resten von Occupy Now, Extinction Rebellion und militanten Tierschützern. Erwarten Sie nicht Blumen bei den nächsten Demos. Je unzufriedener die Masse der Demonstranten mit den politischen Ergebnissen in Sachen Klimaschutz ist, desto schneller wächst das Aggressionspotenzial. Wenn Windradgegner als Taliban bezeichnet werden, lädt sich die Stimmung weiter auf. Und zum Schluss: Die Kolleginnen und Kollegen, die bisher mit Missbrauchsfällen beschäftigt sind, mit ungeklärten Morden, die bekommen Unterstützung. Nach bisherigen Erkenntnissen schwappt eine Welle von Missbrauchsfällen aus den gesellschaftlichen Großbereichen Sport, Karneval, Jugendfreizeit, Jugendheimen auf uns zu. Die Kirchen waren nur der Anfang. Auch bei den Pflegeeltern, den Waisenhäusern, den Erziehungsanstalten wird in die Akten geschaut. Da ist vieles verjährt, anderes nicht. Die Kommissariate werden dazu eine besondere Schulung bekommen. Wir haben Aussagen, dass gerade im Karneval und bei der Jugendbetreuung weggeschaut wurde. Auch in den Sportvereinen soll es in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren zu zahllosen Missbrauchsfällen gekommen sein. Niemand wollte den Kindern glauben. Trainer, Priester, Prinzen und Karnevalspräsidenten waren angesehene Autoritätspersonen. Die Kleingartenanlagen mit ihren gemauerten Wochenendhäusern sollen Unterschlupf geboten haben. Mit diesen dunklen Informationen entlasse ich Sie in den Montag. Fragen?«
Die Polizisten sprachen miteinander, wirkten nachdenklich.
»Fellhofer, Stichwort Intensivtäter. Unsere jugendliche Klientel reist weiterhin über die Schiene oder mit Bussen ein. Wann wird die Bundespolizei zwecks Grenzcheck die Sollstärke erreichen?«
»Keine Ahnung, Kollege. Momentan werden Kräfte in Bayern zusammengezogen, da dort über den Balkan