»Rocky!« Keuchend erreichte Norbert Jörres seinen Hund. Die Morgenrunde endete stets am Krawutschketurm mit einem Schluck aus dem Flachmann. Papas Little Helper nannte er seine prozenthaltige Verpflegung, die Schwung in den Tag des Frührentners brachte. 40 Jahre Privatkundengeschäft in der Sparkassenfiliale von Kleinhau. Schützenverein, Modellbauverein, verantwortlich für die Weckmänner beim Martinszug, veranstaltet von der Besenbinderzunft 1970 Kleinhau e.V.
Norbert Jörres nahm einen kräftigen Zug. Sofort wurde ihm warm in der Kehle. Rocky schaute bellend hinauf zu Herrchen. Er kannte das Ritual. Die Stimme von Herrchen war nach mehreren Schlucken lauter, und manchmal wankte er den Abstieg hinunter. Diesmal bellte Rocky länger als sonst. Er hob die Schnauze Richtung Turm und bewegte den Körper, als ob er unbedingt hinaufwollte.
»Rocky! Jetzt ist aber gut!« Noch ein Schluck. Flachmänner sind Handschmeichler. Norbert Jörres mochte das Edelmetall, den Schraubverschluss und vor allem den Inhalt. Er dachte an all die alten Damen, die er beraten hatte. Abends, daheim bei einem Eierlikörchen und Schnittchen mit Cornichons. Die Witwen – auch in der Nordeifel sterben die Männer früher – saßen hilflos vor ihm mit ihren Wiesen, Feldern, Äckern. Er empfahl Verkauf. Man müsse loslassen, Ballast abwerfen wie die Ballonfahrer. Die Damen staunten. Norbert Jörres hatte die Nummer mit dem Ballon entwickelt. Er erzielte phänomenale Ergebnisse und wurde mehrfach Kollege des Jahres mit einer Urkunde vom Sparkassenvorstand der Kreissparkasse Düren. Damals gab es noch die Kreissparkasse. Norbert Jörres tröstete zudem manche Kundin auf seine ganz persönliche Art. Danach nannten sie ihn Nobbi. Von diesen Trostbesuchen kehrte er etwas später und müde heim. Kurze Zeit danach erfolgte von der getrösteten Kundin eine Überweisung auf sein Konto oder er wurde testamentarisch bedacht.
»Rocky, halt die Schnauze!« Es platzte aus ihm heraus. Norbert Jörres spazierte jeden Morgen mit Rocky zum Burgberg. Bei Waffen-Schumacher in Norddüren hatte er den Flachmann, Qualitätsjägerstiefel und einen Taschenwärmer gekauft. So zog es ihn täglich zum Turm, wo er im Sommer den Sonnenaufgang genoss und an den Bunkern benutzte Kondome mit einem Fußtritt Richtung Abhang beförderte.
»Aus! Rocky! Aus!« Er beugte sich zu dem kläffenden Vierbeiner und blickte auf die Blutspur. Norbert Jörres richtete sich auf, sein Blick folgte dem Blut. Langsam drang das unaufhörliche Krächzen der Krähen in seine Synapsen. Er nahm einen großen Schluck und die erste Stufe der Treppe hinauf auf den Turm. Dann kehrte er um, band Rocky am Treppengeländer fest. »Aus! Aus! Braver Hund.«
Norbert Jörres folgte den Blutstropfen. Ihm wurde mulmig. Auf halber Höhe, bei der mittleren Plattform, nahm er den letzten Schluck. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die Beinmuskeln drohten zu versagen. Rocky saß unten und starrte mit aufgerissenen Augen hinauf zu Herrchen. Herrchen starrte auf die nächste Stufe. Auf der übernächsten wieder Blutstropfen. Norbert schleppte sich auf die oberste Plattform. Trotz seiner trüben Augen entdeckte er den Körper sofort.
»Leggesamarsch!«, formte die schwere Zunge den mundartlich gefärbten Ausdruck des Erstaunens. Weitergehen, runtergehen, Polizei anrufen, Flachmann, Fahne, Wodka, Rocky, Puls, Puls fühlen, verdächtig, bin ich verdächtig? Alkohol, Rocky, Marlene, was wird Marlene sagen? Schmorbraten, Polizeipräsidium, Verhör, getrunken, ich habe getrunken. All das schoss schneller, als man es sagen konnte, durch Norberts Gehirn und führte fast zu einem Kurzschluss, einem Nervenzusammenbruch oder Schock. Mechanisch bewegte er seine Füße in den Premiumjägerstiefeln, stupste vorsichtig einen Arm des vor ihm liegenden Mannes. Keine Reaktion. Norbert kniete nieder. Der Mann lag in merkwürdig verkrümmter Haltung auf dem Bauch. Norbert fasste eine Hand, suchte nach dem Puls, fand keinen Puls, schaute auf den blutigen und zerfetzten Hinterkopf und beschloss, mit seinem neuen Handy die 110 zu wählen. Mit zittrigen Beinen wankte er die Treppenstufen hinunter. Rocky tänzelte unruhig am Fuß des Turms.
»Mann, Rocky. So ein Scheiß.« Norbert Jörres setzte sich auf die unterste Stufe. Er lallte in sein Handy. Die Wache in Kreuzau hatte Mühe, ihn bei diesem instabilen Netz überhaupt zu verstehen. Toter Mann, Krawutschketurm, Bergstein, Blut und sein Name. Er sei Rocky Jörres, ähm, Norbert Jörres, Rocky sei der Hund, der da die ganze Zeit bellt. Oberkommissar Heinen, Wachleiter in Kreuzau, runzelte die Stirn. Schließlich schickte er Kommissarin Holz und Hauptwachtmeister Dillinger hinauf nach Bergstein. Mal nachsehen, wie er sagte.
Herzschuss
Was wird aus meinem Leben? Kriminalkommissar Fett stellte sich diese Frage gegen 5.30 Uhr an diesem Montagmorgen. Wie sieht meine Bilanz aus? Soll und Haben? Mörder gefasst, Sicherheit geleistet, Dienst an der Gesellschaft. Er blinzelte durch die Jalousien in Richtung Osten. Alles dunkel. Aachen schlief noch. Er sprang aus dem Bett. Ab in die Dusche. Weg mit den ewigen Fragen. Eine neue Woche. Noch 15 Tage bis Heiligabend. Zeit, um die Akten zu sortieren. So kurz vor Weihnachten passierten rein statistisch kaum noch Kapitalverbrechen. Eher an Weihnachten und kurz danach, wenn sich die Familien zu nahekommen. Es sollte anders kommen. Doch noch ahnte Kommissar Michael Fett nichts davon.
Draußen nieselte der Regen auf die Gebäude der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen gegenüber seiner Wohnung am Templergraben in Aachen. Ein grauer Dezembermorgen. Um 6 Uhr telefonierte er mit Iska Sonntag. Seine entfernte Freundin, Leiterin eines SEK-Teams, war nach Auflösung der Einheit in Bonn mit ihren Männern nach Köln versetzt worden. Drei Spezialeinsatzkommandos und zwei Mobile Einsatzkommandos waren in Köln konzentriert. Sie mussten sowohl nach Bonn als auch nach Aachen zu besonderen Einsätzen. Schießtraining stand heute auf ihrem Programm. Sie würde mit ihrem Team zunächst im Kino und danach auf dem Stand trainieren. Heute keine Clans, keine Aktivisten in Hambach, keine Reichsbürger mit Waffensammlung, schwerbewaffnete Rockerbanden oder messerstechende Folterknechte. Einfach nur Schießtraining.
»Müsste auch mal wieder«, sagte Michael Fett.
»Komm rüber. Ich zeig dir, wie du triffst. Mit der Waffe.«
»Herzschuss. Hast du ja erreicht bei mir. Zum Glück hab’ ich überlebt. Ganz neu in der Polizeigeschichte.«
»Die müssen gepflegt werden, die Herzschüsse.«
»I know.«
»Deine Mörder haben Vorrang.«
»Ich bin nun mal der weiße Ritter von Aachen.«
»Gab es den? Oder spielst du Karl den Großen?«
»An den kommt keiner ran. Fünf Frauen und 20 Gespielinnen, genannt Friedelfrauen.«
»Na bitte. Männer denken zuerst an die Erfolgsgeschichte beim schönen Geschlecht.«
»So war das nicht gemeint.«
»Komm, komm. Ihr seid in dem Oche alle neidisch auf Karl. Friedelfrauen. Woher hast du den Begriff?«
»Erwähnte der Historiker Professor Kerner in einem Vortrag über Karl. Das waren Geliebte, aber mit mehr Rechten als eine Küchenmagd, die sich der Karl am Grill geschnappt hat.«
»Scheint dich ja mächtig zu interessieren.«
»Der Karl. Ja klar. Ich schau aus der Küche auf die Spitze des Rathauses, dahinter der Dom. In Bonn kannst du ja über die Loreley nachdenken. Wo du auftauchst, entstehen Auffahrunfälle.«
»Na, na, Kommissar Fett. Kommt jetzt der Themenwechsel von MeToo-Karl zum Werbeblock?«
»Ist eben so. Bei jedem Treffen mit SEK-Kollegen schwärmen sie von der Kölner Amazone, und manche kennen dich aus Bonner Zeiten. Den Rest verrate ich nicht, sonst steigt es dir zu Kopf.«
»Mehr davon, mein Lieber. Das sind die reinsten Herztreffer.«
»Deine Klugheit und deinen Witz loben sie. Du seist jedoch eine harte Nummer.«
»Bin halt keine Friedelfrau oder Kebse.«
»Kebse, du kennst dich aus. – Mein Kaffee wird kalt.«
»Lenk