Manche Gebete sprechen sich wie von selbst; sie sind ein „Schrei aus tiefstem Herzen“. Für Gebete dieser Art braucht man kein Training. Tausende solcher Herzensschreie zu Gott habe ich schon ausgestoßen; ich bin sicher, Sie auch. Zum Beispiel, wenn das Telefon klingelt und die Nachricht alles andere als gut ist und Ihnen nichts anderes mehr einfällt, als zu stammeln: „Vater … Vater … Vater“ – und darin der ganze Aufschrei Ihres Herzens liegt. Das sind ganz wunderbare Gebete, sie kommen aus tiefster Seele, oft ganz unwillkürlich, und sie sind in Gottes liebenden Ohren immer willkommen. Die Psalmen sind voller Beispiele für diese Art von Gebet aus spontanem Gefühlsüberschwang:
Mit lauter Stimme rufe ich zu Gott,
ja, ich schreie zu ihm!
Mit lauter Stimme rufe ich,
damit er mir ein offenes Ohr schenkt (Psalm 77,2).
Höre, o Gott, mein lautes Flehen, achte auf mein Gebet!
Aus weiter Ferne, wie vom Ende der Erde, rufe ich zu dir,
denn mein Herz ist mutlos geworden.
Ach führe mich doch auf jenen Felsen,
der für mich zu hoch ist!
Denn du bist für mich zu einer Zuflucht geworden,
zum starken Turm, der mich schützt vor dem Feind (Psalm 61,2-4).
Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer?
Wie lange noch willst du dich vor mir verbergen?
Wie lange noch muss ich unter tiefer Traurigkeit leiden
und den ganzen Tag Kummer in meinem Herzen tragen?
Wie lange noch darf mein Feind auf mich herabsehen? (Psalm 13,2-3).
Schwingt da nicht tief innen etwas in uns mit, wenn wir diese Worte der Psalmdichter lesen? Unsere Seele antwortet Ja. Das ist uns vertraut. Das sind Worte, die uns aus der Seele sprechen. Worte wie „Kummer“ und „mein Herz ist mutlos“ und „Zuflucht“ spielen wie ein Geigenbogen auf den Saiten unseres Herzens. Oder auch: „Wie lange …?“ Da entringt sich mir unwillkürlich ein tiefer Seufzer, von dem ich nicht wusste, dass er in mir steckt; mir war gar nicht bewusst, dass ich den Atem angehalten hatte. „Wie lange?“ – auf diese Worte stößt man oft in den Psalmen. Sie entsprechen der menschlichen Situation nur allzu sehr.
Wenn ich ehrlich sein soll: Die Aufrichtigkeit dieser Gebete ist für mich einer der stärksten Beweise für die Wahrheit der biblischen Botschaft. Sehen Sie: Wenn jemand versuchen wollte, eine neue Religion zu begründen und die Welt von der Wahrheit seiner Sache überzeugen müsste, er würde wohl kaum so unverblümt reden, wie die Bibel es tut. Hier wird nichts für die Öffentlichkeit geschönt. Und das ist ein großes Geschenk für uns; es gibt uns die Erlaubnis, Gefühle zu haben, und alle dürfen wir zu Gott bringen: „Schüttet ihm euer Herz aus! Gott ist unsere Zuflucht“ (Psalm 62,9).
Der Aufschrei des Herzens erfolgt unwillkürlich, wenn wir ihn zulassen. Gebete dieser Art finde ich in mir, wenn ich morgens aufwache. „O Gott, komm mir zu Hilfe. Hilf mir heute, Herr.“ Manchmal ist es nur ein einziges Wort, das mein Herz wiederholt: Jesus, Jesus, Jesus. Wenn wir es zulassen, strömt dieses unwillkürliche Gebet aus uns heraus. Stellen wir also den Zensor ab; lassen wir unser Herz und unsere Seele sprechen. Die Psalmen Davids sprechen eine solche unredigierte, unzensierte Sprache. Und welche Bandbreite an Emotionen sich da findet! In einem Moment jubelt er: „Dich, Herr, liebe ich von Herzen!“, und im nächsten kommt schon: „Warum hast du mich verlassen?“
Dich, Herr, will ich loben von ganzem Herzen,
von all deinen Wundern will ich erzählen.
Über dich will ich mich freuen und jubeln,
zur Ehre deines Namens ein Lied singen, du Höchster! (Psalm 9,2-3).
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber keine Rettung ist in Sicht,
ich rufe, aber jede Hilfe ist weit entfernt! (Psalm 22,2).
Man fragt sich fast, ob hier ein und dieselbe Person spricht; ich ertappe mich dabei, dass ich einen Seitenblick auf den Anfang werfe, ob es tatsächlich immer noch David ist, der hier spricht. Ja, er ist es. Gerade noch sprudeln Freude, Jubel und Überschwang nur so aus ihm heraus; im nächsten Moment hören wir eine Klage aus tiefster Verzweiflung:
Tiefe Freude hast du mir gegeben.
Sie ist viel größer als die Freude derer,
die Korn und Wein im Überfluss geerntet haben! (Psalm 4,8).
Herr, … ich bin kraftlos wie ein welkes Blatt.
Heile mich, denn der Schreck sitzt mir in allen Gliedern.
Ich habe allen Mut verloren.
Und du, Herr, wie lange willst du dir das noch ansehen? (Psalm 6,3-4).
Heute besingt er die großen Taten Gottes; morgen verfasst er Klagelieder voller Kummer und Herzeleid:
Wie kostbar, o Gott, ist deine Gnade!
Menschen suchen Zuflucht im Schatten deiner Flügel.
Sie dürfen den Reichtum deines Hauses genießen,
und aus einem Strom der Freude gibst du ihnen zu trinken (Psalm 36,8-9).
Mein Herz bebt, Todesangst überfällt mich.
Furcht und Zittern setzt mir zu,
das Grauen droht mich zu ersticken (Psalm 55,5-6).
Davids anschauliches Bekenntnis seiner Schuld und der verheerenden Auswirkungen der Sünde gehört zu den ergreifendsten Texten der Weltliteratur:
Weil du zornig auf mich bist,
gibt es keine heile Stelle mehr an meinem Körper.
Wegen meiner Sünden ist nichts mehr an mir gesund.
Meine Schuld ist mir über den Kopf gewachsen,
sie ist eine drückende Last, zu schwer für mich zu tragen.
Meine Wunden eitern und verbreiten einen üblen Geruch –
dass es dahin kam, war meine eigene Torheit.
Ich bin gekrümmt und gebeugt,
in düsterer Trauer schleppe ich mich durch den Tag.
In meinen Hüften brennt der Schmerz,
keine heile Stelle gibt es mehr an mir.
Ich bin zerschlagen, am Ende meiner Kräfte.
Oft lässt die Qual meines Herzens mich nur noch schreien.
Herr, du weißt, wonach ich mich sehne,
mein Seufzen bleibt dir nicht verborgen.
Mein Herz pocht, meine Kraft hat mich verlassen,
mein Augenlicht ist fast erloschen (Psalm 38,4-11).
Aber auch diese Demut und Zerknirschtheit sind nicht von Dauer; schon bald beschwört er Gott, den Untergang seiner Feinde zu bewerkstelligen:
Wenn Gott Vergeltung übt,
wird sich jeder freuen,
der nach Gottes Willen lebt.
Ja, er wird seine Füße baden
im Blut dieser gottlosen Verbrecher! (Psalm 58,11).
Starker Tobak. David lässt sich offensichtlich nicht davon einschüchtern, dass die ganze Welt seine geistlichen Tagebücher lesen wird; er versteckt sich nicht. Er segelt ganz unbekümmert über die sieben Weltmeere der menschlichen