Tann wendete sich zur Tür.
»Danke für die Auskunft.« Er war schon fast draußen, da fiel ihm noch etwas ein. »Wie war noch einmal Ihr Name? Nur fürs Protokoll.«
»Kurt Osthager, und das da ist mein Bruder Georg«, antwortete Osthager knapp. Tann verließ die Werkstatt.
Weiß stand an sein Auto gelehnt.
»Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr raus! Was wolltest du da eigentlich? Der Fall Gressmer ist abgeschlossen.«
»Ich weiß!« Ohne ein weiteres Wort stieg Tann ein.
Erst als sie einige Kilometer gefahren waren, sagte er: »Vor drei Tagen war ich beim Pfarrer, um ihn ein wenig auszuhorchen. Nachdem was ich gehört habe, wollte ich mir ein Bild machen, das ist alles.«
»Und was hast du gehört?«, erkundigte sich Weiß.
»Georg Osthager hatte vor fünf Jahren einen schweren Unfall. Er ist mit seinem Motorrad mit voller Geschwindigkeit auf einen Traktor aufgefahren. Er hat lange im Krankenhaus gelegen. Zum Glück nur leichte Kopfverletzungen, wohl dank des Helms. Schwerste Verletzungen im Unterbauch. Beckenbruch, Milzriss und so weiter. Sein Studium konnte er nicht mehr fortsetzen.«
Alfons Weiß überholte einen Mercedes und schimpfte:
»Verdammt, Opa, wenn du spazieren fahren willst, dann nimm dein Fahrrad!«, fluchte er und fuhr fort: »Und was hat er studiert?«
»Literatur und Kunstgeschichte. Der Pfarrer hat gesagt, früher hat er auch gemalt. Nach einer Rehabilitationsmaßnahme hat er mit dem Schnitzen angefangen.«
Tann holte eine Mineralwasserflasche aus seiner Tasche und nahm einen kräftigen Schluck.
»Trotz allem verstehe ich nicht, was du von ihm gewollt hast. Er kann doch nichts dafür, dass die kleine Gressmer von der Brücke gesprungen ist!«
Tann zuckte die Schultern. »War nur so ‹ne Idee.«
Alfons Weiß fuhr auf den Parkplatz.
»Durch deine Ideen kommen wir jetzt zu spät zur Besprechung. Das erklärst du Brunger«, knurrte er.
Tann trottete neben ihm her und dachte, dass Lehrerinnen einem ganz schön zu schaffen machen können.
Die Sportstunde war ausgefallen. Veronika Brauer war verärgert. Immer die interessantesten Stunden wurden gestrichen. In der sechsten Klasse war der Deutschlehrer erkrankt und Frau Brant musste ihn vertreten. Veronika nahm ihre Sporttasche und ging zum Fahrradständer. Sie war mit Hilke Reichert verabredet. Hilke war neu in der Klasse. Ihre Eltern waren geschieden, und sie wohnte seit einigen Wochen mit ihrer Mutter in einem Mehrfamilienhaus in der Wortstraße. Veronika wartete nicht lange. Im Laufschritt kam Hilke heran und keuchte verärgert:
»Der Klausen meint, ich müsste viel nachholen. Dabei waren wir in Oelde im Englischen wesentlich weiter. Das bisschen Mathe hol ich schon auf.«
»Mach dir nichts draus, der Klausen hat sich immer so wichtig. Die Einzige, die bei dem ankommt, ist Marita«, sagte Veronika beschwichtigend und fuhr fort:
»Marita, wie lautet noch gleich der Satz des Pythagoras?!« Hilke lachte schallend. Veronika hatte ihren Lehrer perfekt imitiert.
»Toll, ich wusste gar nicht, dass du das kannst!«
Sie nahmen ihre Räder und fuhren Richtung Stadtpark. An der großen Rasenfläche stellten sie ihre Räder an eine Bank und setzten sich gemütlich ins Gras. Hilke war in Gedanken noch bei Herrn Klausen und ihren Aufgaben. Sie nahm ihre Tasche und kramte einen Zettel heraus.
»Was der mir alles aufgeschrieben hat.« Sie schüttelte den Kopf.
»Komm, steck das weg!«, sagte Veronika und setzte leise hinzu, »Susanne hätte den Klausen ausgelacht.«
»Susanne? Ist das die, die sich umgebracht hat?« Hilke hatte jetzt auch leise gesprochen. Veronika nickte.
»War meine beste Freundin. Ich hab keinen Schimmer, warum sie das gemacht hat. Komisch nicht?«
»Hatte sie denn Angst vor ihren Eltern?«
Hilke dachte daran, wie ihr Vater immer ausgerastet war, wenn sie mit einer schlechten Note heimkam.
»Susanne hatte nie Angst. Sie war super in der Schule. Marita war schon richtig sauer. Immer wenn sie eine Zwei oder Eins bekam, hatte Susanne garantiert auch eine. Die beiden waren immer im Wettstreit. Mir hat sie oft geholfen.«
Veronika war ins Schwärmen gekommen. Hilke spürte, wie ihr die Freundin fehlte.
»Vielleicht hatte sie ein Geheimnis. Etwas was niemand wissen durfte«, sinnierte sie.
Veronika legte sich lang ins Gras und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Sie betrachtete ein Flugzeug, welches winzig klein und lautlos über ihnen dahin zog. Hilkes Worte beachtete sie nicht. Ihre Gedanken waren bei Susanne.
»Ihre Mutter ist in der Klapse. Sie ist völlig durchgedreht. Ist auch egal. Es ist vorbei.«
Hilke legte sich ebenfalls hin und betrachtete den Himmel. So lagen die Mädchen eine ganze Zeit. Plötzlich sprangen beide fast gleichzeitig auf.
»Es ist gleich zwölf. In zehn Minuten beginnt die Deutschstunde.«
Hilke packte als Erste ihre Tasche. Veronika stand aufrecht und schaute über die Wiese zu einem Paar hinüber. Sie beschattete die Augen, um besser sehen zu können. Das Paar war aber schon hinter dem nächsten Gebüsch verschwunden. Langsam nahm Veronika die Hand herunter.
»Wenn mich nicht alles täuscht, waren die beiden dort drüben Herr Klausen mit Marita.«
»Quatsch! Warum sollte Herr Klausen mit Marita spazieren gehen? Der ist doch verheiratet, oder?«
Hilke hatte ihr Rad geholt und die Tasche darauf verstaut. Veronika nahm ebenfalls ihre Tasche und legte sie auf den Gepäckträger ihres Rades.
»Natürlich ist er verheiratet. Aber seine Frau ist fast einen ganzen Kopf kleiner als er«, sagte Veronika nachdenklich.
»Na und, vielleicht trägt sie Highheels. Komm wir müssen los.«
Die Mädchen fuhren eilig in Richtung Gymnasium davon.
Die Deutschstunde hatte bereits begonnen, als sie in die Klasse stürmten. Frau Zobel, eine magere Endfünfzigerin, blickte tadelnd von ihrem Heft auf.
»Meine Damen, wenn Sie schon unpünktlich sind, dann stören Sie nicht Ihre Mitschüler.«
Frau Zobel sprach alle Schüler der beiden letzten Klassen mit »Sie« an. Die Mädchen grinsten einander an und setzten sich schnell auf ihre Plätze.
Die Klasse hatte »Andorra« vom Max Frisch gelesen. Das Thema sollte in Bezug zur Gegenwart von den Schülern diskutiert werden. Um den richtigen Einstieg zu geben, hielt die Lehrerin einen Prolog zur Judenverfolgung im Dritten Reich. Hilke stieß Veronika an und zischelte: »Marita ist nicht da.«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, öffnete sich die Tür und die blonde, lange Mähne von Marita Zimmer wehte herein. Die Lehrerin, zum zweiten Male in ihrer Arbeit unterbrochen, reagierte gereizt.
»Zum Donnerwetter! Was ist denn heute los? Wo kommen Sie denn noch her?«
Marita Zimmer bekam einen hochroten Kopf und setzte sich schnell auf ihren Platz. Eine Antwort gab sie nicht. Die Lehrerin erwartete es auch wohl nicht, denn ohne weitere Erklärung fuhr sie mit ihrer Stellungnahme fort.
Veronika und Hilke sahen sich an und grinsten. Zu gern hätten sie gewusst, was Marita aufgehalten hatte.
Donnerstag. Markttag. In der Einkaufszone blühten die Bäume. Es war sonnig und mild. Gemütlich bummelte Cäcilia Brand über die Königsstraße zum Berliner Platz.
Es gab dort immer einen Stand, an dem man eingelegte Oliven und Tomaten, besonders leckeren Fetakäse und andere würzige Köstlichkeiten kaufen