Nach der Klinikkonferenz folge ich den Ärzt*innen auf meine neue Station. Im Stützpunkt erhalte ich einen weißen Kittel (das sei so »besser, da man dich dann sofort einordnen kann«) und meine äußerliche Metamorphose gab mir auch einen innerlichen Kraftzuwachs. Der Kittel gab mir Selbstvertrauen, im Kittel war ich sicher. Ich war plötzlich ein Arzt, männlich, weise und sehr weiß.
Doch diese Sicherheit war fragil und kurzlebig. So beschlich mich besonders an diesem ersten Tag, wahrscheinlich unterstützt durch die kurzen und unregelmäßigen Schlafphasen der letzten Tage, mehrfach das skurrile Gefühl in einem Film zu sein. Ich erschrak dabei besonders in der Visite mit einem ›cannabisabhängigen‹ und ›depressiven‹ Patienten in meinem Alter, der ein paar Karrierezufälle weiter vielleicht auch ich hätte sein können.
Begegnung
Ungefähr vier Wochen später hänge ich gerade gelangweilt im Stützpunkt rum. Ich bin jeden Tag genervter von diesem Praktikum. Ich frage mich, wie ich mir so was nur selbst antun kann. Gibt es vielleicht irgendeinen masochistischen Trieb in mir oder erlebe ich eine dem kapitalistischen System geschuldete Entfremdung? Vermutlich beides. Aber es ist nicht mehr lang und ich halte das jetzt durch.
In den Stützpunkt kommt Frau Müller. Sie ist eine junge, hübsche Schülerin, die vorgestern aufgenommen wurde, da sie anscheinend während eines drogeninduzierten, psychotischen Schubs ihre ältere Schwester für eine Art Dämonin hielt und sie mit einem Küchenmesser angegriffen hat. Sie hat sich seitdem meist weinend auf ihrem Zimmer aufgehalten. Sie kommt zum Stützpunkt und will mit Herrn Schmitz, einem Assistenzarzt reden (ihre Mutter ist auch gerade zu Besuch und hält sich währenddessen weiterhin in ihrem Zimmer auf). Ich sitze im hinteren Teil des Stützpunktes und schaue immer mal rüber, was ihr anscheinend auffällt, da sie halb an Herrn Schmitz, halb an mich gerichtet zu erfahren verlangt, wer ich eigentlich sei. Ich gehe rüber und stelle mich als Herr Iltzsche und psychologischen Praktikanten auf der Station vor. Daraufhin bleibe ich bei ihnen stehen und schenke ihr zusammen mit Herrn Schmitz mein Gehör. Ich verstehe nicht alles, was sie erzählt. So spricht sie mehrmals irgendwas von Jesus, vor dem sie sich zu fürchten scheint, bis sich herausstellt, dass sie einen bärtigen Pfleger meint, der gerade im Flur vorbeigelaufen ist und in dem sie anscheinend Jesus wiedererkennt. Was sie aber eigentlich wissen will, ist, wie lange sie noch hierbleiben muss, da sie »hier unbedingt wieder raus« muss. Sie insistiert auf der Frage, was sie denn tun müsse, um wieder entlassen zu werden und beteuert, dass es ihr leidtut und sie ja auch nichts mehr anstellen wird. Der Arzt umgeht die Beantwortung der Frage geschickt, indem er ihr erzählt, dass »sie ja erst mal hier ist, damit sie wieder zur Ruhe kommen kann« und »ihr hier auch nichts Schlimmes passieren wird«. Anscheinend unbefriedigt von der Antwort, fragt Frau Müller an mich gewandt noch einmal, was sie denn tun muss, um entlassen zu werden. Ich erkläre ihr, dass es eigentlich nur zwei Gründe gibt, die es nach dem Gesetz erlauben, jemanden gegen seinen Willen in der Psychiatrie unterzubringen: der gesicherte Verdacht auf Fremd-oder Eigengefährdung. Sie erklärt sofort, dass beides nicht vorliegt, aber muss sogleich feststellen, dass ihre Beteuerungen auch nichts ändern. Zumindest scheint sie durch meine konkretere Antwort Vertrauen zu mir gewonnen zu haben, da sie nun sagt, dass sie sich mit mir gerne allein unterhalten will. Obwohl ich eigentlich gerade Feierabend habe und der Arzt mir zu verstehen gibt, dass ich darauf nicht eingehen muss, stimme ich ihrem Vorschlag zu und wir suchen uns ein anderes Zimmer, um uns ungestört zu unterhalten. Da der Aufenthaltsraum durch andere Patient*innen besetzt, die ›Bibliothek‹ gerade durch ein Extrabett belegt ist und sie nicht zu ihrer Mutter in ihr Zimmer gehen will, schlägt sie vor, sich doch einfach kurz auf den Boden vor ihre Tür zu setzen. Da ich keine bessere Alternative vorschlagen kann, stimme ich ihrem Vorschlag zu und wir setzen uns mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Ich bin unglücklich über diese Lösung, aber zumindest beruhigt, dass gerade kaum noch Mitarbeiter*innen auf Station sind und sich gerade niemand im Flur aufhält. Ich frage sie, wie es dazu gekommen ist, dass sie nun hier ist, was sie für mich nur wirr und unverständlich mit der Geschichte beantwortet, dass sie im Krankenhaus war und sie da verfolgt wurde. Ich frage sie, was sie gemacht hat, bevor sie im Krankenhaus war, woraufhin sie mir ein wenig von illegalen Raves, Drogen und ihren Schulfreund*innen erzählt. Im Gespräch wird mir plötzlich klar, dass sie davon auszugehen scheint, dass auch ich »auf einem Trip bin«, was ich verblüfft und beschämt verneine und ihr nochmal erkläre, dass ich psychologischer Praktikant auf dieser Station und »gewiss gerade auf keinem Trip« bin. Sie fragt sich, ob sie denn später wieder Drogen nehmen darf und welche, dass ja »Kiffen bestimmt kein Problem« sei usw., worauf ich ihr zu erklären versuche, dass das bestimmt keine gute Idee ist, da eine einmal ausgelöste Psychose ganz schnell durch Drogenkonsum wieder ausgelöst werden kann, und dass es jetzt erst mal für sie darum gehen muss »gesund zu werden«. Sie meint, dass sie unbedingt raus will, fängt an zu weinen und sagt »ihr macht meinen Kopf Matsch«, worauf ich die in der Klinik gelernte Floskel anwende: »Dabei wollen wir Ihnen nur helfen.« Zwischenzeitlich wirft sie mir auch vor, dass ich das ja hier eigentlich toll finde, wenn sich ein Mädchen »so vor mir ausheult«, worauf ich ihr ehrlich zu versichern versuche, dass eigentlich das Gegenteil der Fall ist und ich es ziemlich schrecklich finde, zu sehen, wie es ihr geht. Wir reden noch ein bisschen über ihre religiöse Einstellung, dass sie am Religionsunterricht teilnimmt und auch bei einer christlichen Jugendgruppe aktiv ist. Als sie am Ende des Gesprächs nochmal fragt, was sie jetzt tun muss, sage ich eindringlich, dass ihr Ziel sein muss »wieder klar zu kommen« (womit ich absichtlich einen Sprachstil verwende, den ich normalerweise in der Klinik nicht an den Tag legen würde, aber der mir hier angemessen erscheint) und sie wieder lernen muss, die Realität von ihrer Phantasie zu unterscheiden. Als wir aufstehen, will sie mich zum Abschied umarmen, was ich wiederum beschämt ablehnen muss. Holprig versuche ich ihr zu erklären, dass wir uns so verabschieden könnten, wenn wir uns außerhalb der Klinik kennengelernt hätten, in der Klinik aber eine gewisse Distanz zwischen Patient*innen und Personal vonnöten ist.
Ich bleibe auf Abstand zur Psychiatrie. Es bleibt ein generelles Unbehagen bei dem, was hier geschieht. Ich bleibe widerständig, sei es nur im Kleinen. Mich stört es, wie Patient*innen infantilisiert werden und bemühe mich selbst um eine ehrliche Begegnung. Ich will mich nicht mit dem leeren Sprechen ohne inhaltslosen Antworten zufriedengeben, noch unterwerfe ich mich allen Regeln, die auch mein Verhalten hier strukturieren sollen. Doch hat die Psychiatrie mich schon längst eingeholt und eingefangen. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand. Ich bin damit ein Teil von ihr und sie ist es in mir, auch ohne und gegen meinen Willen, schon längst geworden. Es ist längst eine subtile psychiatrische Subjektivierung23 im Gange. Ich versuche zu verstehen, doch verwirrendes tue ich ab. Höre ich nicht zu? Ich folge der psychiatrischen Suche nach Gründen und gebe Empfehlungen. Weiß ich es denn besser und wurde