-Ihre Kindheit kommt nie wieder. Sie werden das nicht nachholen können. Diese Liebe, die Sie als Kind nicht bekommen haben, können Sie nicht nachholen. Aber Sie können Ihr Leben so einrichten, dass Sie jetzt Liebe erfahren.
Straßenbahn
-Und das hat er wirklich so gesagt?
-Ja, ich glaube schon. Oder ich sage es mir selbst. Das ist doch ein Werkzeug, um es auszuhalten, oder? Er hat auch noch gesagt, als ich von D. erzählt habe, und dass er Drogen nimmt, da hat er gesagt: »Das machen Sie doch jetzt auch.« Er meinte die Antidepressiva. Er findet das nicht gut. Er sagt, die machen mich unempfindlich und ich bin dann zu betäubt, um meine Muster zu verändern. Ich kann mich einfach nicht erinnern, ob er das gesagt hat, dass ich mein Leben jetzt so gestalten kann, dass es liebevoller wird. Ich meine, ich wüsste nicht, woher ich den Gedanken sonst hätte. Ich dachte immer, das ist mein Schicksal, ein liebloses Leben. Aber erzähl es niemandem, dass ich das denke. Das ist undankbar, das zu denken.
Ich sitze auf der Couch und er in diesem dunkelblauen Stuhl und zwischen uns steht die Uhr mit dem Zifferblatt in seine Richtung, so dass ich nicht sehen kann, wie viel Zeit wir schon verbraucht haben. Er schreibt nicht mehr so viel mit wie am Anfang, aber manchmal sieht er mich so an, als hätte er Mitleid. Ich möchte ihm gern sagen, dass ich es versuche. Ich versuche es wirklich. Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich schäme mich für jeden Versuch, der schief geht. Für jede Begegnung, nach der ich mich schlecht fühle. Ich weiß wirklich nicht, wo meine Grenzen liegen. Ich weiß nicht, ob er mich wirklich verstehen kann. Ich kam mir sehr stark vor, als ich die erste Stunde bei ihm hatte und erzählt habe, was gerade bei mir los ist. Ich höre mir selbst beim Reden zu und denke irgendwann, ich habe es immerhin bis hierher geschafft. Ich fand mich mutig. Es tat gut. Aber jetzt geht es mir zu schnell, Muster ändern, Motivationen herausfinden, Strategien finden, Verantwortung übernehmen. Ich bin immer noch müde. Ich bin doch schon froh, dass ich wieder schlafen kann. Wohin soll ich denn die Wut packen, und das Weinen, und die Schreie? Am Ende geht es doch wieder ums Verstecken und Funktionieren.
-Such a funny thing for me to try to explain how I’m feeling and my pride is the one to blame. Du musst dich einlassen, vielleicht kann er dir doch was sagen, was geben, was dir helfen kann. Vielleicht weiß er besser, was du brauchst. Willst du wirklich an dir festhalten?
Stadtstrand
-Ich habe mich dafür entschieden, die Antidepressiva abzusetzen. Im Internet steht, man soll sich beraten lassen, aber ich habe meinen Arzt nie wieder gesehen, nach der Diagnose-Stellung. Ich dachte, ich mache das jetzt einfach, es ist ja Sommer, es ist warm und hell, ich habe den Schlaf nachgeholt, ich will nicht mehr. Ich will wieder.
-Und, wie ist es bis jetzt?
-Mein Herz rast.
Küche
-Zwei, drei, vier. Vier Teller in zwei Jahren, das ist in Ordnung, findest du nicht? Eins, zwei, dort drüben noch zwei. Die großen Scherben sind leicht zu finden. Mit den Gläsern habe ich aufgehört, die zerbersten richtig, da ist es so schwer, alle Scherben einzusammeln.
-Es sollte einfach niemand mitkriegen.
-Niemand kriegt etwas mit. Ich bin richtig gut darin geworden, dass niemand etwas mitkriegt. Auch hier, in den hellen Nächten, bleibe ich für mich. Wenn ich nachts rausgehe und mir das vorkommt wie unter Wasser, dann schreibe ich es auf, speichere das Dokument und klappe meinen Laptop zu. Niemand liest das. Ich räume auf, ich wasche Wäsche, ich koche, ich schneide mich nicht mehr. Ich warte, bis ich alleine bin, um zu weinen. Ich bin viel alleine. Ich schlafe und ich gehe und die ganze Zeit ist es laut in meinem Kopf, aber das hört niemand sonst. Ich mache keine Umstände. Ich habe mich im Griff.
-Kein Wunder, dass M. schon eine neue Beziehung hat. Dass D. sich nie richtig für dich interessiert hat. Du spielst fünfhundert Mal am Tag durch, wie du überraschend zurück kommst und M. erkennt, dass er eigentlich dich liebt, und das erschöpft dich so sehr, dass du keine Energie mehr für die Party hast oder die Ausstellungseröffnung oder das Pizzaessengehen.
-Ich fühle mich ganz schön falsch. Weißt du, seit ich denken kann, schaue ich mir die Pärchen um mich herum an und frage mich, was falsch an mir ist, warum ich nicht Pärchen bin.
-Ich glaube, das wirst du nie herausfinden.
-In einem Tagebucheintrag steht, auch xy ist in einer Beziehung, ich habe es gesehen, sie haben während des Studi-Stammtisches Händchen gehalten, irgendwann werde ich so kalt wie Stein. Hier sind die Steine kalt, der Boden, die Wände, die Hände, die Decken, die Nächte, die Scherben, die Worte. Ich unterscheide mich gar nicht mehr von meiner Umgebung. Ich bin kurz davor, zu verschwinden. Verschwinde ich?
-Du bist noch hier.
Sofa
-Die Socken habe ich lange nicht getragen. Die können auch weg.
-Und die Unterhose?
-Kann auch weg, die hat ein Loch.
- Und die hier?
- Die hier. Ja. Die habe ich zusammen mit meiner Mutter gekauft. Sie ist in die Umkleidekabine gekommen, hat meine Wunden gesehen und ist weinend wieder raus. Nein, ich glaube, so war es gar nicht. Vielleicht ist sie mit mir in der Kabine stehen geblieben. Ich glaube, sie hat mich auch berührt. Prüfend, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber an den Blick kann ich mich nicht erinnern. Auch an die Berührung nicht. Vielleicht hat sie mich gar nicht berührt. Aber ich bin mir sicher, irgendwann zwischen der Umkleidekabine und heute, da hat sie gesagt: wenn du das weiter machst, müssen wir dich einweisen lassen. Wenn du das weiter machst, dann müssen wir dich einweisen lassen. In die Psychiatrie.
- Vielleicht ist sie Stein und du bist Stein, weil ihr ja verwandt seid.
- Manchmal kann ich mich nicht so richtig an Sachen erinnern. Sie hat sich sicher Sorgen gemacht. Kontrolle ist so wichtig. Sich im Griff haben.
- Und was ist mit den Socken?
- Die will ich aufheben.
Schieben
Als ich ein Kind war, gab es in meiner Welt keine Möglichkeit, seelischen Schmerz auszudrücken. Seelischen Schmerz zu empfinden, war verdächtig. Damit kam die Möglichkeit auf, die Dinge könnten nicht gut laufen. Seelischer Schmerz bedeutete in meiner Sozialisation, etwas falsch gemacht zu haben, ein persönliches Versagen, damit ging Scham einher. Denn Traurigkeit, Wut oder Unruhe warfen einen Schatten auf den hellen, freundlichen Alltag, um den sich doch alle bemühten.
Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge Katastrophen lauern, ist es unheimlich wichtig, diesen Ablauf nicht zu stören – nicht durch Gefühle zu stören.
Wenn das Durchleben des Alltags bereits alle Kraft braucht, ist jede unerwartete oder neue Situation, jedes komplexere Thema, jeder Konflikt, jeder ambivalente oder unklare Kontakt eine potentielle Überforderung. Wenn Gefühle nicht mit einkalkuliert sind, ist ihr Aufkommen eine Belastung. Es ist eine Schuldfrage, Gefühle zu haben, Schmerz auszudrücken oder Bedürfnisse zu äußern.
Als ich ein Kind war, bestand meine Arbeit darin, keinen seelischen Schmerz zu empfinden, nicht wütend, traurig oder gelangweilt zu sein. Ich lernte, dass meine Angst, meine Wünsche nach Liebe und Geborgenheit, meine Unsicherheit und meine Einsamkeit nicht sein sollten. Als Kind lernte ich, fröhlich zu sein. Ich lernte, mich für Dinge zu interessieren, wenn ich wusste, jemand wünschte sich das von mir. Ich lernte mich selbst leer zu machen und davon auszugehen, dass andere meine Präsenz, so klein sie auch sein mochte, als Störung empfinden würden.
Ich lernte, vorauszuahnen, welches Verhalten andere von mir erwarteten. Ich lernte Gesichter und Stimmen bis in die Nuancen zu deuten. Dadurch würde ich den Katastrophen vorgreifen, sie verhindern, mir die Menschen um mich herum – meine Welt – gewogen halten.
Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge verschiedene Bedürfnisse und einander widersprechende Wünsche sitzen, ist der Knall immer nur wenige Zentimeter entfernt. Mich