Um nicht wankelmütig zu werden, klebte er den Brief sofort zu und brachte ihn zu einem Nachtbriefkasten. Anderntags wachte P. zur gewohnten Zeit auf. Er verrichtete seine morgendlichen Dinge in dem Gefühl, daß etwas ganz Entscheidendes geschehen sei und sein Leben vor einer Wende stehe. Nach dem Frühstück löste er die Seite mit der Reproduktion von den übrigen Seiten und heftete sie mit Stecknadeln oberhalb des ausziehbaren Sofas, das ihm als Schlafstatt diente, an die Wand. Nun konnte er das Bild vom Schreibtisch aus sehen. Dann machte er sich Gedanken, wie er wohl zu einem Schwein kommen könnte.
Er ging schrittweise vor. Seine materielle Beziehung zu Schweinen bestand vor allem im Schnitzel. Und das Schnitzel kam vom Schlachter; der Schlachthof fiel ihm ein. Er suchte die Nummer heraus und führte ein Telefonat. Er erkundigte sich bei der Verwaltung, woher die Schweine kämen, die geschlachtet würden, man gab ihm die Adresse eines Zuchtbetriebes. P. rief dort an, es meldete sich eine Frau. Ob es wohl möglich sei, bei ihr ein Schwein zu mieten, fragte er. Nur für ein Wochenende.
Die Landfrau glaubte an ein Mißverständnis, worauf P. sich wiederholte. Er sagte: Ich möchte ein Schwein. Ich möchte es mieten. Nur für ein Wochenende.
Aber wozu? fragte die Frau.
Für einen künstlerischen Akt. Es soll an einer Leine gehen. Vor einer Dame her.
Naa! rief die Frau in ihrer Mundart.
Bitte?
Nein heiße das, sagte sie und wollte dann wissen, wo er denn lebe. Da käme als erstes der Tierschutzverein. Danach kämen Gesundheitsamt und Ordnungsbehörden. Da müßte er ihr schon Genehmigungen zeigen. Und außerdem: Nicht eines ihrer Schweine sei zu haben für so einen Kram. Schluß.
P. sagte nichts mehr, er legte auf; er fühlte sich elend. Und um durch die Forderungen des Tages nicht noch weiter von der Welt entfernt zu werden, zog er das Sofa wieder aus, legte sich hin und begann zu grübeln. Es wäre wohl am besten, grübelte er, das Schwein zu betäuben. Dann könnte es mit Hilfe von zwei Arbeitslosen, die sich ja finden ließen, in einer Umzugkiste ins Haus und in die Wohnung geschafft werden. Aber zu welchem vernünftigen Zweck? Was könnte man angeben? Vielleicht sollte er einfach behaupten, an einer Rehabilitierung des Schweines zu schreiben, was nur gelingen könnte, wenn er ein Schwein in seiner Wohnung hätte; der Tierschutzverein wäre damit gewonnen. Doch wie die sture Frau vom Land, wie das Gesundheitsamt, wie die Ordnungsbehörde auf seine Seite bekommen? Durch Bestechung natürlich; aber womit bestechen? Es kämen nur Freiexemplare seiner Bücher in Frage, mit Widmung; nur, würde das reichen? Hier müßte dann sein Name zählen; doch wie hoch steht sein Name im Kurs? Und herrscht nicht gerade in Behörden wieder das alte feindselige Klima bezüglich schwieriger Kunst? Demnach bräuchte er Beziehungen; bloß zu wem? Auf sein kleines Verhältnis mit der Kulturdezernentin durfte er nun wirklich nicht bauen. P. grübelte weiter, den ganzen Tag, und vom Grübeln erschöpft, schlief er auf seinem Sofa ein und erwachte erst, als seine Wohnungsklingel am anderen Vormittag schrillte.
Mit ausgedörrtem Mund und voller Blase ging er zur Tür. Es war ein junger Mensch, der eine Eilzustellung brachte. P. warf einen Blick auf die Schrift und spürte sein Herz. Der Brief wog schwer; es waren wenigstens vier Bögen ihres teuren Papiers. Er ging aufs Klo und brach dabei schon den Umschlag auf, er zwang sich, nicht gleich den Schlußsatz zu lesen. Es war ihre übliche tiefblaue Tinte, es waren die gewohnten steilen Züge. Aber es stand eine Anrede da, die seine treueste Leserin noch nie verwendet hatte, und ein Kopfschmerz befiel ihn, als wollte sich sein Hirn unter der Schädeldecke verdoppeln, um keinerlei Raum mehr zu bieten für die Gedanken eines anderen Hirns.
Mein armer P., begann der Brief anstatt mit Bester oder Mein Verehrtester, und es ging weiter in derselben Zeile. Ihr Anliegen hat mich nicht überrascht. Nach der Lektüre Ihres letzten Buches, Zeremonie der Erschöpfung, gab es für mich an Ihrer Krise keinen Zweifel mehr; Art und Ausmaß sind mir indessen erst durch Ihren Brief zu Bewußtsein gekommen. Was soll ich Ihnen sagen? Selbstverständlich kenne ich das großartige Bild Die Dame mit dem Schwein und vermag Ihr Anliegen, das ja mehr ein Ansinnen ist, auch zu verstehen. Stellen wir uns also vor, lieber P., ich käme Ihrer Bitte verständnisvoll nach und klingelte jetzt bei Ihnen; und lassen wir auch den starken Konjunktiv, den ich so liebe, für eine Weile beiseite …
Ich klingle also, und Sie eilen zur Tür. Aus Ihrem Bad dringt ein Scharren und Grunzen. Sie öffnen mir, Sie sehen mich zum ersten Mal vor sich. Ich trage ein gelbes Kostüm, mein Haar ist nach oben gesteckt, der Nacken liegt frei. Sie küssen mir die Hand, ich sage, Grüß Gott. Und danach trete ich in Ihre Wohnung, die mir aus dem Bändchen Vier Wände erzählen ja schon geistig vertraut ist. Sie bitten mich, auf Ihrem Ausziehsofa Platz zu nehmen, aus dem Bad kommt ein Poltern. Das eingesperrte Schwein hat Angst, eine natürliche Reaktion, dennoch beunruhigend. Ich schaue Sie fragend an, Sie sagen mir, das Schwein sei zahm, und um mich noch mehr zu beruhigen, nennen Sie mir sogar einen Namen, vermutlich erfunden. Ein schöner Name, sagte ich, viel zu schön für ein Schwein, und Sie widersprechen mir: der Versuch einer Konversation von Ihrer Seite. Aber ich wünsche keine Konversation. Ich bin gekommen, um die Dame auf dem Bild zu spielen, ich fordere Sie auf, die Vorbereitungen zu treffen; es besteht ein Vertrag zwischen uns. Mein Körper für Ihren Geist, lieber P.
Diese Sachlichkeit stört Sie, doch Sie zeigen es nicht. Sie holen die Accessoires, Sie legen sie auf den Tisch. Zuerst die weißen Kleinigkeiten: Leine, Schärpe, Augenbinde, Blumen und Bändchen, danach die schwarzen: Handschuhe, Strümpfe, Seidentuch sowie den pelzbesetzten Hut; die Schuhe trage ich bereits, Ihrer Anregung folgend, und ich trage auch schon die richtige Kette und die richtigen Clips. All das verwirrt Sie. Sie bieten mir Sekt an, ich lehne ihn ab. Aber warum? fragen Sie, und ich lächle; ich schlage Ihnen vor, mir zuzuschauen, während ich die Kleidung wechsle, der Maskerade beizuwohnen. Machen Sie es sich gemütlich, sage ich, und darauf ziehen Sie die Vorhänge zu und setzen sich hin. Sie setzen sich in Ihren Fernsehsessel, und ich bitte Sie, mir den Reißverschluß meines Kostümrocks zu öffnen. Ich bücke mich zu Ihnen hinunter, Sie sehen die Ränder meiner Wäsche durch den Stoff. Wir reden jetzt nicht mehr. Bis auf das unruhige Schwein ist es still. Abgesehen von Ihrem Herzen, das klopft natürlich, und im Hinblick auf Ihr Alter sollte ein Glas Wasser bereitstehen, neben dem Telefon mit der Notrufnummer …
P. drückte sich eine Faust gegen die Stirn. Sein Kopf tat immer noch weh, aber es war nicht die übliche Pein nach zuviel Anstrengung, es war eher ein schmerzendes Glück, eine gewaltige Ausdehnung in seinem Hirn. Aus dem Bad kam ein Geräusch. Vielleicht der Brausenhahn? Wahrscheinlich der Boiler. Er stand auf und zog die Vorhänge zu, er machte ein Licht an, die kleine Lampe neben dem Sofa; dann las er, stehend, weiter.
Sie öffnen mir nun den Verschluß, der enge Kostümrock springt auf, ich ziehe ihn über die Hüften, links ein Stück, rechts ein Stück, schließlich gleitet er herab. Ich steige aus dem Bündel, Sie sehen, daß ich Strumpfhalter trage. Die schwarzen Bänder sind wie Gitterstäbe, an die sich meine Schenkel pressen. Ich löse alle Bänder, die Strümpfe werden welk, ich ziehe die Jacke aus, danach meine Bluse. Ich stehe nun in der Wäsche vor Ihnen, ich blende Sie etwas. Blinzelnd kommen Sie aus Ihrem Sessel und treten vor die Bücherwand.