Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Amanda Lasker-Berlin
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022846
Скачать книгу
und sie will nicht, dass Mio hinfällt. Er ist einen Kopf größer als sie, und seine Augen stehen noch enger beieinander. Fast, als hätte er nur ein großes Auge, denkt Elija manchmal. Elija glaubt sowieso, dass jeder Mensch ein Auge hat, mit dem er alles sehen kann, und dass die Augen sich trennen, je trauriger man wird. Die Augen von Loth und Noa liegen um einiges weiter auseinander als Elijas.

      Mio wickelt seine Arme um sie. Sie sind kalt, wärmen sich jedoch schnell an ihrem Körper auf. Er ist müde. Mio wacht immer etwas später auf als sie und geht abends auch immer später ins Bett. Nach der Vorstellung ist er nicht so aufgedreht wie Elija, tanzt nicht über die ganze Hinterbühne und gibt nicht jedem einen Kuss. Er setzt sich zum Abschminken auf einen Stuhl und beobachtet Elija. Das reicht ihm.

      Wenn sie einschlafen, mag er es, Elijas ruhigen Atem zu hören. Dann kann auch er einschlafen. Elija muss die Nacht für ihn freikämpfen.

      Der Rasierschaum löst sich im Wasser auf. Die seifigen Reste treiben an ihm herunter. Sein Bauch und Elijas Bauch stoßen aneinander, wenn sie sich eng umarmen. Sie kichern. Dabei zittert Elijas Körper immer etwas mehr als seiner.

      Bist du noch sauer?, fragt Mio.

      Nein.

      Ich habe das falsch gemacht. Gestern.

      Nicht schlimm. Kann jedem passieren.

      Elija mag, wie sich seine Haut anfühlt. Sie ist schuppig, immer trocken, und wenn er sich nicht eincremt, bröckelt sie ab. Mio ist ein Fisch. Nur im Wasser oder mit einer dicken Fettschicht auf der Haut wird er glatt. Wenn er vergessen hat, sich einen Schal umzubinden und durch den Winter stapft, ist sein Hals rau, wie ein alter, tief verwurzelter Baum. Und sein Ausatmen klingt wie das Zwitschern von uralten Vögeln.

      Mit den Händen tastet Elija Mios Körper ab. Er ist genau wie sie rund an jeder Stelle. Er hat nichts, an dem sie sich stoßen könnte. Sein Körper ist so elastisch, dass er sich ganz um sie wickeln kann. Dann bekommt Elija zwar keine Luft, aber wenn sie ihm einmal auf die Schulter tippt, lässt er sie los.

      Elijas Hand landet auf seinem Hinterkopf. Der ist ein bisschen spitz. Sie legt beide Hände darauf, vielleicht kann sie so hören, wie seine Gedanken hin- und herflitzen.

      Mio denkt immer noch an die Vorstellung, weiß Elija. An die eine Szene, die er wieder verdorben hat. Heute Nachmittag bei der Nachbesprechung wird es Ärger geben. Keinen bösen Ärger mit Schimpfen, sondern dieses behutsame Einbläuen. So als wüsste Mio nicht, was er falsch gemacht hat. Das nervt Elija am meisten. Sie versteht nicht, warum alle immer so tun, als wären sie nicht wütend. Nach einer Kritik muss sowieso jeder weinen. Und wütendes Weinen macht den Körper frischer als kleines Schluchzen in der Ecke.

      Auch Elija denkt an den Abend. An ihre Szene, in der nur sie auf der Bühne ist und alle Aufmerksamkeit sich auf ihr versammelt. In der sie tanzt. Ganz wild mit den Hüften und ganz zart mit den Armen und ihr Kopf sich schneller bewegt als ihre Gedanken. Sie spürt, wie alle sie anschauen und dass das ganze Publikum denkt: Das hätte ich der Elija gar nicht zugetraut.

      Elija mag die verblüfften Blicke, die lassen ihre Augen funkeln. Elija wirbelt über die ganze Bühne, kommt in der Mitte zum Stehen, lässt sich auf den Boden fallen und kriecht nach vorne an die Rampe. Da kommt der Monolog. Ihr Monolog, den sie selbst entwickelt hat mit Kassandra, der Regisseurin. In ihren Worten und in ihrem Tempo und mit einem ganz besonderen Rhythmus. Hagar. Eine, die verstoßen wurde. Eine, die nicht mehr dazugehören soll, die in die Wüste geschickt wird. Allein, und im Bauch das Kind. Ismael. Auf der Bühne kann Elija eine Mutter sein. In echt kann sie das nicht.

      Vorne, an der Rampe, schaut Elija dem Publikum direkt in die Augen, pickt sich einen nach dem anderen heraus und erzählt ihnen von dem Sand. Davon, dass da nur noch sie ist und der Sand und die Sonne. Und genau da, als alle Blicke konzentriert an ihr hängen, poltert Mio auf die Bühne. Viel zu früh und so, dass es alle durcheinanderbringt.

      Das Publikum schaut auf Mio, wie er dasteht, ganz perplex, und nicht weiß, was er machen soll. Wie er einfach zu Elija stiert, die versucht, die Zuschauer wieder an sich zu binden. Aber keiner hört ihr zu. Alle sind bei Mio. Der stolpert einmal über den Bühnenraum und geht auf der anderen Seite wieder ab.

      Lachen. Lautes Lachen, und niemand, der mehr zu Elija blickt. Sie rappelt sich auf, stellt sich aufrecht hin und brüllt ihren Text. So laut, dass niemand ihn überhören kann.

      Ich habe den Moment kaputt gemacht, stottert Mio. Er hält Elija fest, als hätte er Angst, sie würde ihn wegstoßen.

      Hast du. Aber nicht so schlimm.

      Das sagt Elija immer. Egal, was Mio tut. Es war nicht so schlimm. Denn Mio kann gar nichts Böses machen, und wenn er was Böses macht, sicher nicht mit Absicht.

      Nach der Vorstellung nimmt die Regisseurin Mio zur Seite, redet leise mit ihm. Und er nickt die ganze Zeit. Elija weiß nicht, was sie besprochen haben. Sie weiß nur, dass es nicht das erste Mal war, dass Mio ihren Auftritt unterbrochen hat.

      Die Dusche und das gesamte Bad sind rosa gefliest. Ein Überbleibsel aus den siebziger Jahren. Elija und Mio haben mit den anderen aus der WG flache Gummiquallen und Fische an die Fliesen geklebt. Sie duschen in einem rosa Aquarium. Elija mag es, die Quallen nach dem Duschen auszudrücken. Das restliche Wasser fließt kläglich die Fliesen entlang, schafft es meistens nicht bis in den Abfluss. Es verdunstet.

      Mio dreht das Wasser aus.

      Bist du sauber?, fragt er.

      Elija nickt. Er steigt vor ihr aus der Dusche und reicht ihr ein Handtuch. Elija packt sich gut ein, öffnet das Fenster und hält den Kopf hinaus. Im Sommer lässt sie ihre Haare am liebsten an der Luft trocknen.

      Es ist warm, jetzt schon. Und Loth bekommt Angst vor einem zu heißen Tag. Vor schrumpelnder Haut in der Sonne. Vor roten Flecken im Gesicht. Sie steht am Rand der Planken, tritt mit einem Fuß in den Schlamm. Auf das Wollgras, das macht Geräusche. Mit den Geräuschen spielt Loth eine Melodie. Ob die anderen sie erkennen können?

      Noa lehnt sich auf der Bank zurück, legt den Kopf in den Nacken. Neben ihr sitzt Elija. Die schnauft, die hält eine Flasche Wasser in der Hand. Ist ein bisschen unzufrieden. Noa hat Wasser mit Kohlensäure gekauft. Davon muss sie niesen. Elija will warten, bis die Bläschen aus der Flasche gekrochen sind. Schaut konzentriert auf die Wasseroberfläche. Als ihr das zu lange dauert, nimmt sie einen skeptischen Schluck.

      Noa beobachtet Loth. Wie sie auf den sumpfigen Boden stampft. Wie sie grinsend nach oben schaut, sich auf die Sumpftöne konzentriert. Noa hofft, dass Loth nicht noch anfängt zu singen.

      Erkennt ihr die Melodie?, ruft Loth zur Bank.

      Elija überlegt. Das Patschen erinnert sie an ein Lied. An eines von früher, als sie klein waren. Das klang aber anders, viel zarter. Loth versteht nicht, dass man Musik gefühlvoll machen muss, denkt Elija. Dass Melodien nur lebendig sind, wenn jeder Ton Raum hat, sich zu entfalten. Bei Loth klingt alles so leblos.

      Noa hört nicht hin. Wahrscheinlich wieder so ein verbotenes Lied, das Loth gleich singen wird. Darauf hat sie keine Lust, nicht so früh am Morgen.

      Um die Melodie zu treffen, muss Loth es wieder und wieder probieren. Zertrampelt dafür Halm um Halm und patscht mit ihren Füßen in vorher unberührtem Schlamm. Das schreckt Insekten auf.

      Kennt ihr das wirklich nicht?, fragt Loth erneut.

      Elija hört genau hin. Sie wird sich immer sicherer, welches Lied das sein könnte. Doch so schroff klingt es nicht. Würde Elija das spielen, könnte Noa es sofort erraten. Dann würde Noa das schön finden. Sie steht auf, geht zu Loth.

      Lass es, Elija, setz dich lieber wieder hin, denkt Noa nur. Sie schraubt die Flasche zu und verstaut sie sorgfältig im Rucksack. Dabei lässt sie sich Zeit, prüft, ob der Deckel gut verschlossen ist, ob sich Krümel auf dem Taschenboden gesammelt haben, die Seiten des Reiseführers verknickt sind.

      Als sie wieder aus dem Rucksack auftaucht, steht Elija nicht am Rand der Planken, sondern mitten im Moor. Mitten auf der Wiese, zwischen den Halmen, die vom Wind gebogen werden.