Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Amanda Lasker-Berlin
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022846
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      VON ACHT BIS ELF

      Acht

      Die Sonne sticht in Noas Auge. Sie blinzelt. Bleibt eine kleine Weile blind. Noa lauscht dem Bach. Er schlängelt sich durch das Moor, teilt es in zwei Hälften. Zwischen Wasser und Noa wuchern halbhohe Gräser, sie wiegen sich minimal. Die umstehenden Bäume beschützen sie vor dem Wind. In den Kronen rascheln tiefgrüne Nadeln. An ihnen kommt die Sonne nur schwer vorbei. Mehrfach gebrochen, landen helle Strahlen auf dem sumpfigen Grund, zeichnen Muster auf die herausstehenden Wurzeln, flimmern über die Holzplanken, auf denen Noa hockt.

      Endlich das Licht, denkt Noa. Nächte sind ihr zu dunkel.

      Ein Sonnenstrahl bricht sich im Wasser, hüpft an ihrem Auge vorbei, landet auf ihrer Stirn. Sie mag es, Sonne auf der Haut zu spüren. Mehr noch, als die Haut eines anderen zu streicheln.

      Fast ohne jede Welle zieht der Bach an ihr vorbei. Noa lehnt sich vor. Ihr Spiegelbild taucht im schnellen Wasserlauf auf. Verschwommen, unklar. Die Gesichtsform zitternd, die Augen milchige Flecken, die Nase wegen der schwachen Kontraste nicht auszumachen. Irgendwo die Ohren. Nur die roten Haare strahlen ihr deutlich entgegen. Die sind chemisch gefärbt. Noa schiebt sich ein Stück weiter vor. Schaut genauer hin. Das Spiegelgesicht wird größer. Noa dreht sich um. Vielleicht steht jemand hinter ihr, der so verschwommen aussieht. Vielleicht Elija oder Loth.

      Jetzt blickt Noa konzentriert auf ihr Bild im Wasser. Die Iris setzt sich nicht vom Augapfelweiß ab, die Pupillen sind ein übersehbarer Fleck. Wimpern erkennt sie nicht.

      Mit dem kleinen Finger streichelt sie ihr Auge. Kurze borstige Haare sprießen aus dem Lid. Die Haut ist dort warm. Noa wärmt sich die Finger auf, dann taucht sie sie in den Bach.

      Das Wasser weiß noch nichts vom Sommer. Das Wasser denkt noch: Schneeschmelze.

      In den Fingerkuppen ziehen sich die Gefäße zusammen, das Blut kehrt um. Fließt bis in die Handwurzel. Die Finger werden weiß.

      Sanft führt Noa sie gegen die Strömung. Das Wasser schnellt durch den Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger, lässt sich nicht stauen.

      Noa schaut in den Himmel. Kleine Wolken, spitze Kronen und das Versprechen auf Hitze. Die Vögel singen nicht mehr. Dafür ist es zu spät am Tag.

      Während Noa den Kopf in den Nacken legt, treibt der Bach das Wasser tiefer ins Moor.

      Noa nimmt den Kopf aus den Wolken, schaut auf die fröstelnde Hand im Bach. An den Kuppen ist sie blau geworden. Schnell zieht Noa sie heraus, streift sie an der Hose ab. Dann steht sie auf. Ihr Spiegelbild versackt im Moor. Nur das Rot der Haare nicht. Das ist chemisch gefärbt.

      Loth kniet vor Elija. Das Licht blendet sie. Warum muss es am Morgen schon so hell sein? Vielleicht hätten sie früher aufstehen sollen. Loth konnte sowieso nicht schlafen. Loths Finger sind kalt. Elijas rechter Schnürsenkel hundertfach verknotet. Dass man so ein riesiges Knäuel aus nur zwei Schnüren zusammenwurschteln kann, wusste Loth vorher nicht.

      Warum hast du das gemacht, murmelt sie.

      Elija schluchzt leise. Ohne Tränen. Zum Richtigweinen ist sie noch zu müde. Vor neun steht sie normalerweise nicht auf. Loth und Noa haben sie gezwungen.

      Ihr ist schummrig vor Augen. Der Tag beginnt zu plötzlich. Frühstück in der Herbergsküche. Zu starker Käse, zu rustikale Wurst. Zuckerreduzierte Marmelade. So was isst Elija nicht. Trockenes Brot macht ihr schlechte Laune. Kein Kakao, nur Kräutertee, und der schmeckt nach Krankenhaus.

      Elija lehnt sich an der Bushaltestelle an. Bei der Fahrt ist ihr schlecht geworden. Sie hat sich nicht übergeben. Wenn sie keine Tüten dabei hat, übergibt sie sich nicht.

      Ihr ist das nur einmal passiert. Vor Jahren. Elija sieht sich dastehen, im Bus. So wie jetzt kurz vor dem Moor. Die Hände an die Stange gepresst, die Lippen aufeinander. Flaches Atmen durch die Nase. Die Schule nicht mehr weit entfernt. Überall Winter und überall stinkende Anoraks in der föhnigen Heizungsluft. Und da passiert es einfach. Nach einer scharfen Kurve, wenige Minuten vor dem Kunstunterricht. Der gelbe Anorak wird braun und noch stinkender. Alle denken: Ah, diese behinderten Kinder kotzen überall hin. Wir kotzen ja nicht überall hin. Wir haben gute Gene und kotzen nur, wenn wir betrunken sind. Aber dann ist es dunkel und cool, und jetzt ist es hell und peinlich. Können behinderte Kinder überhaupt Tageszeiten auseinanderhalten?

      An der nächsten Station steigt Elija aus, heult in ihr Handy, bis sie abgeholt wird.

      Die feste Glasscheibe stärkt Elija den Rücken. Sie hört, wie Loth unter ihr flucht.

      Der Knoten lässt sich nicht öffnen. Egal, wie fest Loth zieht, wie fein sie friemelt. Wie lange sie vor jedem Griff überlegt.

      Das geht nicht, sagt Loth und schaut zu Elija auf. Dabei ziehen sich in ihre Stirn tiefe Falten. Loth sieht alt aus, wenn sie wütend ist, findet Elija. Und Loth ist fast immer wütend.

      Versuch noch mal, bittet Elija.

      Der Schuh sitzt nicht fest am Fuß. So wird sie Blasen bekommen. Die neuen Wanderschuhe sind kaum eine Woche alt. Vor der Reise hat Elija sie jeden Tag getragen. Auch in der Wohnung. Nur zum Tanzen und Schlafen hat sie sie ausgezogen. Trotzdem ist das Leder rau. Jetzt ist es zu spät. Jetzt geht die Wanderung los.

      Elija beißt sich auf die Lippen, nimmt sich vor, nicht quengelig zu sein. Den ganzen Tag nicht.

      Loth richtet sich auf. Sie überragt Elija um einiges. Elija mag nicht, dass sie immer nur Loths kleine Brüste sieht, wenn sie geradeaus blickt. Den Kopf in den Nacken legen, um Loths Gesicht zu sehen, will sie nicht. Und Loth hat keine Lust runterzuschauen.

      Das ständige Runterschauen macht mich depressiv, denkt sie.

      Elija guckt auf die Brüste und Loth auf die Scheibe der Bushaltestelle. Loth spiegelt sich. Ihre Haare sind noch feucht, wirken fettig, findet sie. Und das ist nicht gut. Auch nicht, wenn man ins Moor geht und den ganzen Tag nur Gräser und Sumpf zu sehen bekommt.

      Was ist mit dem Schuh?

      Was soll damit sein? Du hast diesen Knoten da reingemacht, und ich kriege ihn da nicht raus.

      Bitte hilf.

      Elija reißt die Augen weit auf. Bei Noa kommt sie damit immer durch. Aber Loth ignoriert Elijas Augen. Sie sind klein, werden von einer großen Lidfalte beschützt.

      Loth sieht nur ihre Schultern, ihren Hals, ihr spitzes Kinn in der Scheibe.

      Loth ist klapprig. Ihr Schlüsselbein steht hervor. Ihre Pulsader pocht blau in den Wald hinein. Unter ihren Wangenknochen fällt die Haut nach innen.

      Früher hat Elija gedacht, Loths Wangenhaut würde vielleicht an den Zähnen festkleben. Jetzt weiß sie, dass Loth einfach nichts isst. Außer Bratwürste auf dem Weihnachtsmarkt. Und Käsehäppchen und Mettigel auf Partys.

      Komm jetzt, wir gehen zu Noa. Die wartet schon.

      Mein Schuh!

      Da bist du selbst schuld dran. Komm jetzt. Vielleicht kriegt Noa das hin.

      Loth dreht sich um. Blickt zu der Stelle, an der Noa vor wenigen Minuten auf den Moorwanderweg eingebogen ist. Ein Bogen aus