Als wir beispielsweise wissen wollten »Was betrachten Sie als virtuelle Arbeit?«, erwiderte ein Manager:
Für uns bedeutet virtuelle Arbeit, dass wir eine Menge Outsourcing‐Beziehungen haben. Und ich kann Ihnen sagen, dass viele von ihnen nicht funktionieren.
Wenn wir das Gespräch vertieften, gelangten Führungskräfte oft zu der Schlussfolgerung, dass bei den virtuellen Mitarbeitern alle Personen inbegriffen waren, die sowohl mit dem Unternehmen als auch miteinander per Laptop oder Mobilgerät verbunden sind:
Vermutlich könnte man sagen, dass das ganz Unternehmen aus virtuellen Mitarbeitern besteht, obwohl bei uns die Anwesenheit im Büro grundlegend Pflicht ist. Viele tauschen sich nur per E‐Mail oder IM (Instant Messaging, Nachrichtensofortversand) aus, selbst wenn sie physisch im Büro nebenan sitzen.
2. Wie wirkt sich die Arbeit mit virtuellen Teams auf die Führungskräfte aus?
Die Antwort auf diese Frage spiegelte ausnahmslos die wachsenden Herausforderungen wider. Ein Topmanager aus einem globalen Finanzdienstleistungskonzern erklärte:
Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich weiß nicht, wie weit ich jemandem in einer virtuellen Arbeitsumgebung wirklich vertrauen kann. Deshalb mache ich mir ständig Sorgen über die Fortschritte, die mein Team bei gleich welchem Projekt erzielt. Ich versuche, die Leistung der virtuellen Mitarbeiter anhand der alten Messinstrumente zu bewerten, und das funktioniert nicht.
Eine andere Führungskraft aus einem namhaften Pharmakonzern sagte:
Da ich für einige Mitarbeiter unter meiner Führung nicht direkt zuständig bin und ihnen außerdem nur selten persönlich begegne, fällt es mir sehr schwer, ihre Leistung genau zu bewerten. Das ist eine riesige Herausforderung.
3. Was sind die wichtigsten organisatorischen und strategischen Auswirkungen der virtuellen Arbeit?
Die Umfrageteilnehmer schwiegen eine Weile und dachten nach, weil sie nicht wussten, womit sie anfangen sollten. Viele waren der Meinung, es sei am schwierigsten, das richtige Geschäftsmodell zu wählen, wie aus der Antwort eines Telekommunikationsmanagers hervorgeht:
Die Hierarchie ist in einer solchen Umgebung veraltet. Früher konnte man Aufgaben vertikal, von oben nach unten, delegieren. Aber wie koordiniert und delegiert man Aufgaben an Mitarbeiter, auf die man keinen direkten Zugriff hat, die in virtuellen Umgebungen tätig sind und über die man, falls überhaupt, nur wenig Kontrolle ausüben kann?
Ein weiteres wichtiges Thema wurde vom CIO, dem Leiter der Informationstechnik, einer großen Bank angesprochen:
Einige der von uns genutzten Technologien (zur Erledigung der Aufgaben) setzen ein derart fundiertes Fachwissen voraus, dass Führungskräfte über eine bestimmte Ebene unserer Organisation hinaus keine Ahnung haben, was wir tun. Deshalb sind wir völlig auf uns selbst gestellt, richten uns im Allgemeinen nach den Prinzipien, dass wir dem Unternehmen helfen, Geld einzusparen, unsere Aufgaben erledigen und versuchen, die Zusammenarbeit mit Kollegen zu fördern. Wir sind ein globales Unternehmen mit mehr als 100 000 Mitarbeitern. Da besteht keine Möglichkeit, genau zu verstehen, was jeder Einzelne macht.
Während der Interviews kristallisierten sich klare Muster heraus, die wir drei Kategorien zuordneten, wie aus Abbildung 1.2 ersichtlich.
1 Standortbasierte Herausforderungen wurden als Zusammenbruch der Kommunikation zwischen weit verstreut Arbeitenden beschrieben, ungeachtet dessen, ob sie sich persönlich kannten oder nicht.
2 Tagtägliche Probleme bezogen sich auf Ärgernisse wie häufige Fehlkommunikation, übermäßiges Multitasking und Technologieversagen, die den Schwung in den täglichen Meetings ausbremsten.
3 Beziehungsbasierte Schwierigkeiten beinhalteten diejenigen Aspekte, die mit einem Gefühl der Isolation auf der persönlichen Ebene verbunden waren.
Abb. 1.2: Problemmuster aus der ursprünglichen Feldforschung
Bei der Analyse wurde offenkundig, dass jeder dieser Bereiche eine Form der Distanz repräsentierte. Die standortbasierten Herausforderungen bezogen sich eindeutig auf feststehende Distanzen – Unterschiede zwischen Zeit, Ort und Organisationszugehörigkeit im Vergleich zu anderen Teammitgliedern. Wir fassten sie unter dem Begriff physische Distanz zusammen.
Die täglichen Irrungen und Wirrungen, die ständig für Frustration sorgten, beispielsweise zu viele E‐Mails beantworten zu müssen oder das Fehlen eines geteilten Kontexts, erzeugten regelmäßig und wiederholt psychologische Distanz. Wir fassten sie unter dem Begriff operative Distanz zusammen, weil sich die Form, die sie annahm, von einem Tag zum anderen verändern konnte.
Die Beziehungsprobleme entwickelten sich aus einem tief verwurzelten intuitiven Gefühl der Isolation, verursacht durch Risse im kulturellen Wertesystem und in anderen Sozialdynamiken, die verhinderten, dass ein Gefühl der Nähe entstand. Wir fassten sie unter dem Begriff Affinitätsdistanz zusammen.
Wir stellten außerdem fest, dass sich eine Problemkategorie auf viele andere auswirkte und in verschiedenen Kombinationen zutage trat, die je nach Unternehmen und Situation variierten. Deshalb galt es, die Falle zu vermeiden, sie auseinander zu reißen und einzeln zu betrachten, um Dinge wie wachsendes Misstrauen und mangelnde Ziel‐ und Aufgaben‐ oder Rollenklarheit zu erklären. Auf der Grundlage unserer ersten Feldstudien wurde deutlich, dass die Probleme eng miteinander verknüpft waren und in Kombination ein neues Phänomen erzeugten: die virtuelle Distanz. Abbildung 1.3 veranschaulicht das Modell der virtuellen Distanz im Überblick.
Doch die Identifizierung der Probleme sagte noch nichts über die Beschaffenheit oder das Ausmaß der virtuellen Distanz auf die Unternehmensergebnisse, beispielsweise Innovation und Finanzen, aus. Wir zielten darauf ab, eine Methode zu entwickeln, die uns unmittelbar den Weg zu umsetzbaren Lösungen wies. Das führte zur Entwicklung des Index der virtuellen Distanz (Virtual Distance Index, VDI), ein exakt überprüftes und validiertes Verfahren zur Messung der virtuellen Distanz, das einen quantitativen Leistungsvergleich ermöglichte, um herauszufinden, ob die virtuelle Distanz Auswirkungen besaß und wenn ja, welche.
Abb. 1.3: Modell der virtuellen Distanz, Übersicht
Wir stützen uns bei unserer Betrachtung auf einen umfangreichen im Lauf der Zeit entstandenen Datensatz: Er umfasst 1400 Studien, 55 Länder, mehr als drei Dutzend Branchen und Repräsentanten aller Organisationsebenen.
Unser Ergebnis: Unkontrollierte virtuelle Distanz hat negative Auswirkungen auf zentrale Führungsaspekte, den finanziellen Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens.
Wie aus Abbildung 1.4 ersichtlich, ist die virtuelle Distanz