1 Der Weg zur virtuellen Distanz
2002 mehrten sich die Stimmen, dass die Unzufriedenheit mit der Arbeit und den Arbeitgebern wuchs. Ironischerweise tauchten diese Nachrichten zur gleichen Zeit auf wie die technologisch fortschrittlichsten und leicht zugänglichen Kommunikations‐ und Kollaborationswerkzeuge, die in den Unternehmen eingeführt wurden. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Laut The Conference Board, einer gemeinnützigen Forschungsgruppenorganisation, ist bei der Arbeitszufriedenheit im Durchschnitt zwar ein Aufwärtstrend zu verzeichnen, aber bei genauerem Hinsehen sind nur 36% der Beschäftigten mit den verfügbaren Kommunikationskanälen, 37,5% mit den künftigen Wachstumschancen, 37% mit der Anerkennung und Bestätigung und 36,1% mit dem Arbeitspensum in ihrem Unternehmen zufrieden.1
Fünfzehn Jahre nach Beginn unserer Studie ist also ein großer Teil der Erwerbstätigen nach wie vor unzufrieden mit den Stellschrauben der Zusammenarbeit, die das Fundament für andere wichtige Aspekte der Arbeit bilden, obwohl die Technologie inzwischen Lichtjahre von ihrem damaligen Entwicklungsstand entfernt ist. Doch das erstaunt kaum, wenn man die Zunahme der virtuellen Distanz bedenkt.
Mythenkiller
Obwohl die digitale Arbeit von einer hochentwickelten Kommunikationstechnologie definiert wird, ist die Mehrzahl der Beschäftigten unzufrieden mit den Kommunikationskanälen in ihren Unternehmen.
Diese Tatsache zu beachten ist von zentraler Bedeutung. Seit wir die Auswirkungen der virtuellen Distanz entdeckt haben, wissen wir, dass die Kommunikationstechnologien, die virtuelle Arbeit erst ermöglichen, nicht das Hauptproblem darstellen, wenn es um den Mangel an Arbeitszufriedenheit geht. Fehlfunktionen am Arbeitsplatz werden vielmehr durch die menschlichen Interaktionen verursacht, die innerhalb und zwischen den Faktoren der virtuellen Distanz gewichtet werden. Und das ist schon seit geraumer Zeit der Fall. Rückblickend können wir sogar sagen, dass die virtuelle Distanz schon existierte, bevor Smartphones und Tablets den kometenhaften Aufstieg dessen in Gang setzten, was wir heute virtuelle Arbeit nennen.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Kommunikationstechnologie
Als wir die Herausforderungen zu erforschen begannen, die mit der virtuellen Arbeit verbunden sind, gab es weder iPads noch iPhones, und iPods waren weniger als ein Jahr auf dem Markt. Blackberry‐Smartphones und Personal Digital Assistants (PDAs), oft als Speerspitze der »smarten« Mainstream‐Mobilgeräte bezeichnet, tauchten erst 2002 auf, wobei es mehr als zehn Jahre dauerte, bis ihre Anzahl mit 84 Millionen Nutzern ihren Höhepunkt erreichte. Doch ihr Marktanteil brach rapide ein, als Betriebssysteme wie iOS und Android sämtliche Rivalen in den Schatten stellten.
Wie bereits in der Einführung erwähnt, wurde die virtuelle Distanz trotz der kontinuierlichen Entwicklung »intelligenter« digitaler Geräte ein weltweites Phänomen und ihre Auswirkungen auf die Ergebnisse in allen Lebensbereichen gewinnen zunehmend an Stärke und Macht.
Gedankenexperiment
Denken Sie an die schrittweise Entwicklung der Kommunikationstechnologie während Ihrer Lebenszeit und fragen Sie sich:
Welche Technologien haben Sie kennengelernt und welche benutzen Sie heute am meisten?
Auf welche Weise haben diese Kommunikationstechnologien Ihre privaten oder beruflichen Beziehungen verändert oder geprägt? Welche Unterschiede machen sich heute bemerkbar?
Auf welche Weise haben die Schnittstellen zwischen Kommunikationstechnologie und zwischenmenschlichen Beziehungen Ihre Gefühle hinsichtlich Ihres Berufs‐ und Privatlebens beeinflusst?
In den ersten Jahren des neuen Millenniums herrschte die Überzeugung vor, dass die Vorteile der Informations‐ und Kommunikationstechnologie (ICT), wie sie damals genannt wurde, grenzenlos wären. In vielen Berichten hieß es beispielsweise, dass die Informationstechnologie (IT) einen erheblichen Produktivitätsanstieg nach sich gezogen habe.
Abb. 1.1: Produktivitätsveränderung im Unternehmenssektor, ausgenommen Landwirtschaft, 1947–2018
Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics (https://www.bls.gov/lpc/prodybar.htm)
Wie aus Abbildung 1.1 ersichtlich, erhöhte sich die Arbeitsproduktivität zwischen 1990 und 2000 im Durchschnitt um 2,2%, von 2000 bis 2007 um 2,7%. Viele behaupten, die Steigerung sei der Informationstechnologie zu verdanken. Doch von 2007 an, als das iPhone auf den Markt kam, ist die Arbeitseffektivität rückläufig, hat mit nun 1,3% den niedrigsten Stand seit den 1970er Jahren erreicht. Ein ähnlicher Produktivitätstrend war auch bei der Fallstudie der CPG Inc. aus dem Vorwort zu beobachten.
Es steht fest, dass die technologischen Fortschritte allein nicht erklären, was in der Erwerbsbevölkerung vor sich geht. Dazu müssen wir eine parallel verlaufende Entwicklung verstehen: die Zunahme der virtuellen Distanz.
Die Zunahme der virtuellen Distanz
Die Ankunft von Internet und digitaler Kommunikation führte bei vielen zu der Überzeugung, dass diese neue Welt eine nahtlose Ausweitung der globalen Interkonnektivität am Arbeitsplatz ankündigte. Ein Beispiel ist Thomas L. Friedmans Buch Die Welt ist flach. Doch im Rahmen unserer Forschungsprojekte sahen wir etwas ganz anderes – Berichte von zunehmend dysfunktionalem Verhalten. Deshalb beschlossen wir, einen Blick auf die Ergebnisse früherer Recherchen zu werfen.
Wir stellten bald fest, dass die Aufgabe nicht einfach sein würde. Unsere anfänglichen Nachforschungen pflügten viele Arbeitsfelder um, die eigentlich miteinander vernetzt sein sollten, in Wirklichkeit aber unzusammenhängend und sogar widersprüchlich waren. In der akademischen IT‐Literatur fanden wir beispielsweise die üblichen Begriffe »Computervermittelte Kommunikation« (computer mediated communications, CMC), »Computergestützte kooperative Arbeit« (computer supported collaborative work, CSCW), »Entscheidungsunterstützende Systeme für Gruppen« (group decision support systems, GDSS) und andere weit verbreitete Kategorien, die virtuelle Arbeit entweder definierten oder in direktem Zusammenhang damit standen. Die Managementliteratur ordnete virtuelle Arbeit dagegen weitgehend anderen Kontexten zu, verknüpfte sie vor allem mit dem Begriff »virtuelle Teams«, jedoch ohne Rückanbindung an die Lektionen, die sich aus der IT‐Forschung ableiten ließen.
Damals wie heute gibt es eine Reihe von Studien, die auf dieselben Fragen fokussiert und auf viele verschiedene Arbeitsfelder verstreut sind. Sie haben sich mit denselben Problemen befasst, jedoch vielfach versäumt, sich die Entdeckungen und Erkenntnisse aus anderen Forschungsprojekten zunutze zu machen. Daher wurden mögliche Verbindungen zwischen ihnen oder Aha‐Momente, die sich daraus ergeben könnten, ignoriert. Und da die meisten Studien auf Studentenstichproben basierten, war der Nutzen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen begrenzt.
Deshalb begannen wir, Fragen zu stellen, die sich aus unseren Erfahrungen als Führungskräfte in der Welt der Unternehmen herleiteten. In den ersten eineinhalb Jahren interviewten wir Dutzende Vorstandsmitglieder, Manager und Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung, die Erfahrung mit virtuellen Teams hatten. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Branchen, zum Beispiel Finanzdienstleistungen, Pharmazeutika, Unternehmensberatung, Telekommunikation und Konsumgüter. Wir konzentrierten uns dabei auf drei Fragen.
1. Was betrachten Führungskräfte als