„Jemand, der selbst sehr stark verletzt wurde“, korrigierte Gary Schmitt.
„Von einer Prostituierten?“, fragte ich.
„Ja, vielleicht auch. Aber ich würde doch annehmen, die traumatischen Erlebnisse, die zu dieser Form der Persönlichkeitsstörung geführt haben, bereits in der Kindheit stattgefunden haben und sehr fundamental sein müssen. Der Täter hasst alle Frauen, nicht nur Prostituierte. Es könnte sein, dass es sich um einen Täter handelt, der in einer Umgebung aufwuchs, in der sehr feste Moralvorstellungen galten. Der Widerstand, den er aufbringen muss, um eine Prostituierte zu töten, ist vermutlich bei ihm geringer, weil er die Einstellung vermittelt bekam, dass es sich dabei um moralisch minderwertige Frauen handelt. Sünderinnen, die den Tod in Wahrheit verdient haben. Das macht es ihm leichter, seinen Hass auszuleben.“
„Ein sexuelles Motiv schließen Sie aus?“, fragte Mr McKee.
„Es geht um Erniedrigung und die Macht, jemanden bestrafen zu können“, erklärte Gary Schmitt. „Keines der Opfer wurde vergewaltigt oder sexuell missbraucht. Ich denke, der Obduktionsbericht von Eileen Genardo wird da keine unerwarteten Neuigkeiten bringen.“
Mr McKee atmete tief durch.
Er ging zu seinem Schreibtisch und holte eine zusammengerollte Zeitung, die er schließlich entfaltete, sodass wir die Schlagzeilen lesen konnten. „Das hier passt zu dem, was Sie uns vorhin über wertlose Sünderinnen gesagt haben, die unser Täter mit gutem Gewissen ermorden kann“, sagte er. „Ein radikaler Prediger namens Joshua Freed hat sich öffentlich zu Wort gemeldet und wird demnächst wohl durch alle möglichen Kabelsender wandern. Er behauptet, der ‚Barbier’ sei ein Schwert Gottes, um die Sünderinnen zu strafen, die sich einem gottlosen Leben hingegeben hätten.“ Mr McKee warf die Zeitung auf den Tisch.
„Der Unterschied zu unserem Täter scheint nur die Tatsache zu sein, dass dieser Prediger seinen Hass verbal äußert und nicht in die Tat umsetzt!“, sagte Schmitt.
„Könnte so etwas unseren Mann zu weiteren Taten anspornen?“, fragte ich.
Schmitt schüttelte den Kopf. „Ganz so einfach ist das nicht. Aber wenn der Täter von den Äußerungen dieses Predigers liest, könnte er das als eine Art Segnung seiner eigenen Handlungsweise empfinden. Die Hemmungen werden geringer, er könnte dem Bedürfnis, eine weitere Tat auszuführen vielleicht schwerer widerstehen.“
Ich berichtete von den Gerüchten über einen perversen Freier, der darauf stand, Frauen die Haare anzuschneiden und angeblich schon zur Zeit des Falles Gail Montgomery vor sieben Jahren Susan Michaels angesprochen hatte.
„Sie halten das nicht für besonders glaubwürdig?“, fragte Gary Schmitt.
Ich zuckte mit den Schultern „Für mich ist das schwer zu sagen. Ich denke, es handelt sich erst mal nur um ein Gerücht, bis ich mehr darüber weiß. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob es möglich wäre, dass ein Täter manchmal bis zum Äußersten geht und ein Opfer umbringt und in andere Fällen sich vielleicht mit einer Rasur der Kopfhaut zufrieden gibt?“
„Das ist sogar sehr wahrscheinlich, wenn man von der bisher angenommenen Täterpersönlichkeit ausgeht“, erklärte Schmitt. „Falls dieser Mann, von dem Sie gehört haben, tatsächlich der Mörder sein sollte, dann scheint er sich zumindest zeitweise noch unter Kontrolle zu haben und belässt es bei ein paar etwas seltsameren Spielchen.“
23
Susan Michaels spürte den Schlag ins Gesicht.
„Aufwachen!“
Der Klang jener Stimme, die innerhalb der letzten halben Minute dieses Wort mindestens zwanzigmal in ihr Ohr geschrieen hatte, war äußerst durchdringend. Ihr Schädel brummte. Jedes Mal glaubte sie, dass das Echo dieser Stimme von allen Seiten auf sie zukam. Wie ein Chor von Geisterstimmen.
Ein weiterer Schlag traf Susan Michaels im Gesicht – diesmal auf die andere Wange.
Sie stöhnte auf. Sehr vage und chaotisch kehrten die Erinnerungen zurück. Die Limousine, die Wohnung, die freundlich angebotene Tasse Kaffee.
Und danach hatte alles aufgehört. Wie bei einem Filmriss. Es gab keine Erinnerungen, nur ein tiefes dunkles Loch, in dass sie gefallen war. Sie hatte geschlafen wie ein Stein.
Wie viel Zeit seitdem vergangen war, davon hatte sie keine Ahnung.
Es konnten Tage, Wochen oder nur Stunden sein. Jegliche Empfindung dafür schien ihr abhanden gekommen zu sein.
Susan Michals lag auf dem Bauch.
Der Teppichboden, auf dem sie lag, war ziemlich abgelaufen. Hände und Füße waren mit Kabelbindern zusammengeschnürt, die sich an den Handgelenken tief in ihre Haut eindrückten. Die Hände spürte sie schon gar nicht mehr.
Nur als dunklen Umriss nahm sie eine Gestalt war, die zuvor neben ihr gekniet hatte und sich nun erhob.
Sie versuchte den Kopf zu wenden, vermochte die Gestalt aber nicht zu sehen.
„Was wollen Sie?“
Es kam keine Antwort.
Panik erfasste Susan. Der Puls schlug ihr bis zum Hals.
„Schrei ruhig!“, wisperte eine Stimme. „Dich hört hier niemand, die Wände sind absolut schalldicht. Schrei ruhig... Ich habe auch geschrieen... Damals...“
„Wer sind Sie, verdammt noch mal?“
Ein leises Lachen folgte. Dann wurde Susan an den Haaren gepackt, nachdem sich die Gestalt rittlings auf ihren Rücken gesetzt hatte. Mit einem Rasiermesser wurden die ersten Büschel aus ihrem dichten Haaransatz geschabt. Eine Stelle begann zu bluten. Ein roter Strom lief Susan über das Gesicht.
Die Angst machte sie inzwischen halb wahnsinnig.
„Lassen Sie mich gehen!“, flüsterte sie. „Bitte!“
„Das kann ich nicht“, lautete die kalte Erwiderung.
Susan schrie wieder aus voller Kehle. Die Stimme ermunterte sie noch.
„Lauter! Ich genieße deine Schreie! Nie wieder wird dich ein Mann ansehen. Hast du verstanden? Alles, was du bist, ist ein zuckendes Stück Fleisch voller Furcht.“
Ein heiseres Lachen ertönte nun und ging Susan durch Mark und Bein.
Es begann ihr zu dämmern, dass sie nicht mehr den Hauch einer Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen.
|