51.
Übrigens aber rate ich auch an, um seiner selbst und um andrer willen ja nicht zu glauben, es sei irgendeine Gesellschaft so ganz schlecht, das Gespräch irgendeines Mannes so ganz unbedeutend, dass man nicht daraus irgend etwas lernen, irgendeine neue Erfahrung, irgendeinen Stoff zum Nachdenken sammeln könnte. Aber man soll nicht aller Orten Gelehrsamkeit, feine Kultur fordern, sondern gesunden Hausverstand und geraden Sinn begünstigen, vorziehn und reden und wirken lassen, sich auch unter Menschen von allerlei Ständen mischen; so lernt man zugleich nach und nach den Ton und die Stimmung annehmen, die nach Zeit und Umständen erfordert werden.
52.
Mit wem aber soll man am mehrsten umgehn? Natürlicherweise lässt sich auch diese Frage nur nach eines jeden besondern Lage beantworten. Hat man die Wahl (und wirklich hat man diese doch öfter, als man glaubt), so wähle man sich die Weisern zu seinem Umgange, Leute, von denen man lernen kann, die uns nicht schmeicheln, die uns übersehen; allein gewöhnlich gefällt es uns besser, einen Zirkel untergeordneter Geister um uns her zu versammeln, die in Kreisen tanzen, so oft unser hoher Genius seine Zauberrute schwingt. Wir bleiben indessen dadurch immer, wie wir waren, kommen nie weiter in Weisheit und Tugend. Es gibt zwar Lagen, in welchen es nützlich und lehrreich, sich unter Menschen von allerlei Fähigkeiten zu mischen, ja wo es auch Pflicht ist, nicht bloß mit Leuten umzugehn, von denen wir, sondern auch mit solchen, die von uns lernen können, und die ein Recht haben, dies zu fordern; diese Gefälligkeit aber darf nie so weit gehn, dass die Rechenschaft, die wir einstens von unsrer goldenen Zeit und von der Obliegenheit, uns zu vervollkommnen, geben sollen, dabei Gefahr laufe.
53.
Es ist oft eine höchst sonderbare Sache um den Ton, der in Gesellschaften herrscht. Vorurteil, Eitelkeit, Schlendrian, Autorität, Nachahmungssucht und wer weiß, was sonst noch stimmen diesen Ton so, dass zuweilen Menschen, die an einem Orte zusammen leben, jahraus, jahrein, sich auf eine Weise versammeln, unterhalten, Dinge miteinander treiben und über Gegenstände reden, die allen zusammen und jedem einzelnen unendliche Langeweile machen. Dennoch glauben sie, sich den Zwang antun zu müssen, diese Lebensart also fortzuführen. Gewährt wohl die Unterhaltung in den mehrsten großen Zirkeln einem einzigen von den da Versammelten wahres Vergnügen? Spielen unter fünfzig Personen, die jeden Abend die Karten in die Hand nehmen, wohl zehn aus wahrer Neigung? Um desto erbärmlicher ist es, wenn freie Menschen in kleinern Orten oder gar auf Dörfern, die zwanglos leben könnten, um den Ton der Residenzen nachzuahmen, sich ebenso peinlich unter das Joch dieser Langenweile krümmen. Hat man Gewicht bei seinen Mitbürgern und Nachbarn, so ist es Pflicht, alles dazu beizutragen, den Ton vernünftiger zu stimmen. Ist das aber nicht der Fall, und man gerät einzeln in einen solchen Zirkel, so vermehre man nicht durch ein schiefes oder stummes mürrisches Betragen der Anwesenden und des Hauswirts Verlegenheit, es voreinander zu verbergen, dass sie sich sämtlich weit von da weg wünschten, sondern man zeige sich vielmehr als einen Meister in der Kunst, viel zu reden, ohne etwas zu sagen, und mache sich wenigstens das Verdienst, den Raum auszufüllen, wovon außerdem gewöhnlich die Verleumdung Besitz nimmt.
In volksreichen, großen Städten kann man am allerunbemerktesten und ganz nach seiner Neigung leben; da fallen eine Menge kleiner Rücksichten weg; man wird nicht ausgespähet, kontrolliert, beobachtet; es laufen nicht so aus Mund in Mund die interessanten Nachrichten: wievielmal in der Woche ich Braten esse, ob ich oft oder selten ausgehe und wohin; wer zu mir kommt, wie stark der Lohn ist, den ich meiner Köchin gebe, und ob ich kürzlich mit ihr geschmält habe? Meine Kleidung wird nicht gemustert; man fragt nicht in jedem Kramerhause meine Magd, wenn sie für vier Pfennige Pfeffer holt, für wen der Pfeffer ist und wozu der Pfeffer gebraucht werden soll? Eine unbedeutende Anekdote beschäftigt da nicht sechs Wochen lang alle Zungen; man wandelt unbemerkt, friedenvoll und ungeneckt durch den großen Haufen hin, besorgt seine Geschäfte und wählt sich eine Lebensart, wie man sie für zweckmäßig hält. In kleinen Städten ist man verurteilt, mit einer Anzahl oft sehr langweiliger Magnaten in strenger Abrechnung von Besuchen und Gegenbesuchen zu stehn, die gewöhnlich gleich nach dem Mittagstische ihren Anfang nehmen und bis zu der Bürgerglocke, das heißt bis zehn Uhr abends fortdauern, während welcher Zeit die Unterhaltung gewöhnlich den König von Preußen, den Kaiser, andre hohe Potentaten, und was der Reichspostreuter von ihnen meldet, zum Gegenstande hat. Das ist nun freilich erschrecklich; doch gibt es auch Mittel, dort den Ton des Umgangs nach und nach zu verfeinern oder das schwache Publikum daran zu gewöhnen, nachdem es ein viertel Jahr hindurch über uns gelästert hat, uns endlich auf unsre Weise leben zu lassen, wenn man sich übrigens redlich, menschenfreundlich, dienstfertig und gesellig beträgt. Am übelsten aber pflegt man in den mittlern Städten daran zu sein, sowohl in den Reichsstädten der geringem Klasse, als in unbeträchtlichen Residenzen. Da herrschen gewöhnlich, neben einem übertriebenen Luxus und solchen sittlichen Verderbnissen, die mit der Korruption in den größten Städten wetteifern, noch obendrein alle Gebrechen kleiner Städte, Klatschereien, Anhänglichkeit an Schlendrian, an Gewohnheiten und Familienverbindungen, die abgeschmacktesten Forderungen und die lächerlichste Klassifizierung der Stände. So habe ich eine Stadt gesehn, in welcher ein Mann durch seine kürzlich erhaltene Bedienung, die ehemals dort nicht existiert hatte, so sehr von allen übrigen einmal bestimmten Rangordnungen abgesondert war, dass er wie ein Elefant in einer Menagerie immer für sich allein spazieren gehn musste, ohne seinesgleichen, weder einen Gesellschafter, noch eine Gefährtin finden zu können. Vielleicht bin ich parteiisch für meine liebe Vaterstadt, aber ich glaube (und auch andre einsichtsvollere Männer lassen ihr diese Gerechtigkeit widerfahren), dass, obgleich Hannover nicht zu den größten Städten in Deutschland gehört, man dennoch hier so frei und unbemerkt leben könne als irgendwo. Vermutlich hat unsre Verbindung mit England, wo manche Vorurteile von der Art verachtet werden, hierzu viel beigetragen. Da nun aber in den wenigsten Städten von Deutschland diese glückliche Stimmung angetroffen wird, so muss man lernen, sich nach den herrschenden Sitten zu richten, und nichts kann unvernünftiger und für den Eiferer selbst von nachteiligem Folgen sein, als wenn ein einzelner, der nicht besonders in Ansehen steht, auftreten und seine Vaterstadt reformieren will. Nirgends kommt indessen ein solcher Deklamator übler an als in den Reichsstädten, wo alte Sitte und Schlendrian innig verwebt sind in die Regierungsform und in alle übrigen Verhältnisse. Dort kann zuweilen der bloße Schnitt eines Rocks oder ein bisschen mehr oder weniger Gold darauf, wodurch ein Kaufmann sich von seinen Mitbrüdern unterscheidet, ihn um seinen Kredit bringen, und eine Perücke im richtigen Kostüm, die über einen leeren Hirnkasten gehängt wird, bei der Ratsherrnwahl den Sieg über ein eigenes Haar, das einen feinen Kopf deckt, davontragen.
In Dörfern und auf seinem Landgute lebt man in der Tat am ungezwungensten, und für jemand, der Lust hat, sich zu beschäftigen und zum besten andrer etwas beizutragen, findet sich da mannigfaltige Gelegenheit, indem man an dem nützlichsten, zu sehr niedergedrückten und vernachlässigten Stande zum Wohltäter werden kann; allein die geselligen Freuden sind auf dem Lande nicht so leicht zu verschaffen. In Augenblicken, wo man gerade Bedürfnis fühlt, seine Arme nach einem treuen Freunde auszustrecken, ist dieser Freund vielleicht Meilen weit von uns entfernt; man müsste denn reich genug sein, einen ganzen Hofstaat von Freunden um sich her zu versammeln, aber auch das hat seine üble Seite, und sehr reiche Leute fühlen ja ohnehin selten dies Bedürfnis. Um also hier glücklich und vergnügt leben zu können, ohne so sehr wohlhabend zu sein, soll man die Kunst verstehn, das Gute aus dem Umgange der Menschen, die man grade bei sich haben kann, zu schmecken und zu erkennen, der einfachen Freuden nicht müde zu werden, damit zu geizen, und ihnen auf erfindungsreiche Art Mannigfaltigkeit