Juanita hat sich ein Programm für mich überlegt und ich bin gerührt, mit wie viel Eifer die kleine Schwester sich in die Planung gestürzt hat. Beim Nachtisch möchte sie alles mit mir durchgehen.
„Mira, Valeska“, sagt sie energisch, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Morgen ruhst du dich noch etwas aus. Du erholst dich vom Flug, gewöhnst dich an die Zeitverschiebung, die neuen Eindrücke. Nach einem super Frühstück werde ich dir dann das ganze Haus und die Ställe zeigen.
Dann schauen wir uns die Umgebung bei einem kleinen Spaziergang an. Gar nicht weit von hier fließt ein kleiner Fluss, wir könnten dorthin gehen! Ansonsten entspannst du dich.“
Übermorgen zeige ich dir dann Ciudad del Este, unsere nächstgrößere Stadt an der Grenze zu Brasilien! Wir fahren mit dem Bus hin! Da können wir shoppen gehen!“
„Oh fein, ich geh gerne shoppen. Gibt es in Ciudad del Este auch was zu besichtigen? Ich bin schließlich als Touristin hier!“, ziehe ich Juanita auf.
„Klar, kein Thema, da ist die Kirche, der Fluss, die Brücke nach Brasilien ...“
„Perfekt. Ich freu mich schon, aber“, ich kann einen riesigen Gähner nicht unterdrücken, „ich bin hundemüde! Bei uns in Deutschland ist es jetzt schon zwei Uhr morgens!“
Juanita spult im Eiltempo ab: „Dann will ich mit dir ausreiten und picknicken, zum Stausee Itaipú fahren, ein Wochenende in Asunción verbringen, in dem wir Party machen werden ... zum Río Paraguay, zu dem Guaraní-Indianern ...
„Stopp! Gnade!“ rufe ich lachend.
„Danke, Juanita! Ich freue mich ehrlich schon auf die tollen Ausflüge, aber nun möchte ich schlafen gehen. Vielleicht gehe ich zum Ausspannen einen Moment an die frische Luft.“
„Ich begleite dich“, sagt Ramón auf Englisch, „ich möchte nach Black Lightning sehen. Möchtest du dir die Ställe ansehen?“
Juanita schaut etwas säuerlich, lässt mich aber ziehen.
Zuvor wünsche ich ihr, Isabella und Jost sowie dem kleinen Jorge eine gute Nacht.
Dann trete ich mit Ramón in die subtropische Nacht hinaus. Es ist herrlich, wie angenehm warm es noch ist.
Als Ramón den Stall betritt, pfeift er leise. Sofort beginnt es in einer der Boxen zu rumoren und ein wunderhübscher, schwarzer Hengst streckt uns seinen Kopf entgegen.
Ramón liebkost und streichelt ihn und redet leise-zärtlich auf ihn ein.
„Ach, ich bin so froh, ihn wiederzusehen!“, sagt er.
„Das vermisse ich in Asunción. So toll das Leben dort auch ist, mir fehlt die Natur, das ruhige Leben und mein Hengst“, erklärt er ernsthaft.
Ich trete zurück und will gerade etwas erwidern, als ich mit dem linken Fuß in etwas hängenbleibe. Wild rudernd falle ich in einen Heuhaufen und bleibe erst mal verdattert liegen.
Ich höre Ramóns glucksendes Lachen, als er mir seine Hände entgegensteckt und mich hochzieht.
„¿Qué pasa?“, fragt er.
„Oh, ich bin so müde!“, erkläre ich entschuldigend. „Mir ist richtig schwindelig.“
Besorgt schaut er mich an:
„Du musst sofort ins Bett“, sagt er bestimmt.
Er fasst mich am Arm und zieht mich in Richtung Haus.
„Du hast zu wenig geschlafen und solltest dich gut ausschlafen. Ausreichend Schlaf ist für die Gesundheit und ein langes Leben sehr wichtig!
Neue Studien haben gezeigt, welche verheerenden Auswirkungen Schlafmangel auf unser Wohlbefinden und unsere Lebensdauer hat!“
„Ja, das weiß ich spätestens seit Schlafes Bruder!“, entgegne ich halb spöttisch, halb ernst.
„Robert Schneider hat da wirklich ein außergewöhnliches Stück Literatur geschaffen. Ich habe es auf Spanisch gelesen, Juanita sogar im Original“, antwortet er gelassen.
„Du kennst Schlafes Bruder?“, frage ich ungläubig- aber auch erfreut.
Nicht zu glauben, dass dieser Junge vom anderen Ende der Welt den Bestseller des deutschen Sprachraumes von 1992 kennt!
„In zwei Tagen verschlungen“, grinst er mich an.
„Ich fand aber das Ende und die quälend lange Beschreibung, wie er sich zu Tode wacht, so grausam, dass ich am liebsten nicht weitergelesen hätte!“, gestehe ich.
„Hast du?“
„Ja, weil ich immer alles zu Ende lese“, entgegne ich überheblich. „Ich liebe lesen!“
„Ich denke, du machst allgemein in deinem Leben immer alles zu Ende.
Du wirkst sehr konsequent und diszipliniert“, meint er freundlich.
Inzwischen sind wir im ersten Stock angekommen.
„Mich hat die Figur dieses Jungen – im Grunde mein Alter - enorm fasziniert“, erzählt Ramón.
„Hochbegabt, aber leider unfähig, sein Genie völlig auszuleben, sich aus seinen Verhältnissen zu lösen und mit der Frau, die er liebt, glücklich zu werden. Aber von bewundernswerter Konsequenz bis in den grausamen Tod.“
„Ich fasse nicht, dass ich hier am Ende der Welt mit einem Jungen stehe und „Schlafes Bruder“ rezensiere!“, entfährt es mir.
Er lächelt mich an.
„Das liegt daran, dass du ein außergewöhnliches Mädchen bist.“
Wir stehen vor meiner Zimmertür.
„¡Buenas noches, Ramón! Danke, dass du mich bis zum Zimmer begleitet hast.“
„¡Buenas noches, pequeña!“, antwortet er und hat mir, ehe ich mich versehe, rechts und links je einen zarten Kuss auf die Wangen gesetzt.
„Ich habe das auch aus Eigennutz getan. Es ist jetzt halb elf und ich muss morgen um halb sechs aufstehen. Um halb sieben reite ich los und muss mit den Jungs die Kühe hüten!“
Mit diesen Worten verschwindet er in seinem Zimmer.
Ich schaffe es gerade noch, mir die Zähne zu putzen, ehe ich nach meinem ersten Tag in Paraguay erschöpft in die weichen Laken sinke und umgehend einschlafe.
***
Ein warmer Sonnenstrahl kitzelt mein Gesicht, als ich am nächsten Morgen erwache.
Fast gleichzeitig ertönt eine helle Jungenstimme neben meinem Ohr: „Guten Morgen, Valeska! Gut geschlafen? Steh auf!“
Ich drehe mich unmutig auf die andere Seite und knurre ungehalten: „Klappe, Erik. Seit wann bist du das Weckkommando? Ich bin noch müde und werde weiterschlafen. Mach die Biege!“
„Valeska, ich bin nicht Erik!“
Die Jungenstimme ist noch heller - und nun dämmert es auch meinen verschlafenen Gehirnzellen - jünger als die Stimme meines 16-jährigen Bruders und nun auch sehr empört.
„Ich bin‘s, Jorge!“
Nun bin ich endgültig wach und schlage die Augen auf.
„Oh - entschuldige bitte, Jorge! Es tut mir leid! Ich wollte nicht unhöflich sein.“
„Aha, so redest du also mit meinem Cousin!“, lacht er. „Der Arme!“
„Quatsch“, wehre ich ab, „wir sind halt Geschwister! Du und Juanita mögt euch bestimmt sehr und trotzdem streitet ihr auch öfter mal und geht etwas ruppig miteinander um.“
Er grinst mich verständnisvoll an und gibt zu: „Ja, Juna und ich kabbeln uns auch oft.
Aber ich möchte dich etwas fragen, große Schwester: