Einige Gebiete wurden von Gangs und Crackdealern beherrscht. Ganze Straßenzüge verfielen langsam. Die Polizei traute sich in manche Gegenden nur in Stärke einer 10er-Einsatzmannschaft und mit kugelsicherer Weste. Im Norden hingegen hatte die Bronx ein eher bürgerliches Gesicht. Schmucke Alleen mit Einfamilienhäusern prägten Viertel wie Riverdale. Auch die Labors der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, befanden sich in der Bronx. Ein Stadtteil mit zwei Gesichtern, einem schönen und einem sehr hässlichen. Leider hatte letzteres den Ruf der Bronx in aller Welt nachhaltig geprägt. Eine Brücke führte über den Harlem River. Ab hier hieß die First Avenue plötzlich Melrose Avenue. Wie ein gerader Strich durchzog sie die Bronx und trennte unter anderem auch Einflussgebiete verschiedener Drogengangs voneinander. "Weißt du, was ich glaube, Tylo?", fragte ich, als wir gerade das Bronx-Ufer des Harlem Rivers erreicht hatten. "Mir ging das die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf, als wir in Mister McKees Büro saßen..."
"Wovon sprichst du, Jesse?"
"Davon, dass das meiner Ansicht nach auf keinen Fall ein geplantes Attentat auf Jack Rezzolotti war."
"Wie willst du das so sicher ausschließen?"
"Diese Oger-Gang hat angefangen, den Leuten die Brieftaschen wegzunehmen. Wahrscheinlich sind sie aus purem Zufall auf Rezzolotti getroffen."
"Und der hat geglaubt, ein Killerkommando hätte es auf ihn abgesehen. Rezzolotti griff zur Waffe und das Drama nahm seinen Lauf."
"Genau. Wenn diese Gangster geahnt hätten, dass ihnen zufällig ein Rezzolotti gegenübersitzt, hätten sie um dessen Porsche einen weiten Bogen gemacht, Tylo."
"Zufällig?", echote Tylo. "Wenn das Opfer Jack Rezzolotti heißt, denkt man an alles Mögliche. Nur nicht an Zufall. Dir brauche ich ja nicht zu sagen, wie viele Feinde Rezzolotti hatte. Wie Mister McKee schon sagte: Das Ausrauben der Leute kann durchaus Tarnung gewesen sein..."
"Aber dann beantworte mir mal eine Frage, Tylo: Wie sollen die Mörder gewusst haben, dass Rezzolotti junior sich mit seinem Porsche an einer ganz bestimmten Stelle auf der Brooklyn Bridge befand?"
"Keine Ahnung!"
"Siehst du! Wenn es ein Attentat war, dann müssen diese Oger das aber gewusst haben!"
Tylo kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Jemand hat einen Peilsender an Rezzolottis Porsche angebracht!", fiel ihm eine Lösung ein, an die ich auch schon gedacht hatte.
"Die Kollegen der Scientific Research Division haben nichts dergleichen gefunden, ich habe mir Max' Dossier daraufhin noch einmal durchgelesen."
"Wir haben den abschließenden Untersuchungsbericht der SRD noch nicht", gab Tylo zu bedenken.
Ich grinste. "Eins zu null für dich!"
"Was - so schnell gibst du dich geschlagen?"
"Nein, ich habe mich in dieser Frage nur noch nicht endgültig festgelegt, Tylo."
Der Wagen bog von der Melrose Avenue ab. Wir fuhren durch trostlose Straßenzüge. Ganze Blocks waren unbewohnt. Nur hin und wieder fanden sich Geschäfte. Immer wieder konnte man vernagelte Fenster sehen. Larry Mortons Drugstore befand sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Brownstone-Hauses. Ich stellte den Chevy am Straßenrand ab. Wir stiegen aus, blickten uns um. Auf der anderen Straßenseite standen ein paar junge Männer in übergroßen Cargo-Hosen und dunklen Wollmützen. Ein Ghetto-Blaster sorgte dafür, dass die Gegend mit Rap-Musik beschallt wurde. Die Kerle blickten misstrauisch zu uns herüber. Wir betraten den Drugstore. Larry Morton stand hinter dem Tresen und nippte an einer übergroßen Kaffeetasse mit der Aufschrift "I love You". Ich erkannte ihn sofort von den Fotos, die wir von ihm hatten. Er war Mitte dreißig, hatte dunkel gelocktes Haar und blaue Augen. Morton blickte auf. Ich hielt ihm meine ID-Card entgegen.
"Ich bin Special Agent Jesse Ambalik vom FBI Field Office New York und dies ist mein Kollege Tylo Rucker. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen!"
"Fragen?" Ein Muskel zuckte unruhig unterhalb seines linken Auges. "Was für Fragen?"
"Es geht um Ihren Wagen."
"Den Van?"
"Ja", nickte ich.
"Ich wusste gar nicht, dass sich neuerdings G-men um gestohlene Autos kümmern!"
"Wenn dieser Wagen wenig später bei der Ermordung einer Mafia-Größe als Fluchtfahrzeug der Täter dient - dann ja!"
Morton verschränkte die Arme vor der Brust. "Keine Ahnung, wovon Sie reden!"
"Jack Rezzolotti - der Name sagt Ihnen gar nichts? In den Lokalnachrichten gab es kaum ein anderes Thema!"
"Mein Fernseher ist defekt, Zwerg!"
“Wollen wir jetzt rassistisch werden?”
“Ist es rassistisch, wenn ich sage, was jeder sieht - Zwerg?”
Tylo atmete tief durch.
Wenn ein Supererdenzwerg atmet, hat das etwas mehr Luftvolumen, als wenn ein Mensch mit Standardkörper das macht. Dementsprechend gibt es dann auch ein anderes Geräusch.
“Lassen wir das besser.”
“Okay - Zwerg!”
Tylo war klug - und ließ sich nicht provozieren zu lassen.
Tylo holte eine Kopie jenes Fotos aus seiner Innentasche, das bei Mortons Geschwindigkeitsübertretung auf dem Bruckner Expressway geschossen worden war. "Dieses Bild wurde zu einem Zeitpunkt geknipst, als Sie Ihren Wagen schon als gestohlen gemeldet hatten."
"Das ist doch Unsinn!"
"Das sind Tatsachen!"
"Tatsache ist auch, dass mein Wagen immer noch verschwunden ist. Wissen Sie eigentlich, was das für mich als Geschäftsmann bedeutet?"
Tylo mischte sich ein und sagte: "Ich nehme an, dass man Sie für Ihren Verlust fürstlich entschädigt hat!"
"Was?" Er stierte uns scheinbar verständnislos an. Wir waren uns sicher, dass er ganz genau wusste, worauf wir hinaus wollten.
Ich deutete auf das Foto. "Sie wussten offensichtlich schon im Voraus, dass Ihr Wagen gestohlen wird, Mister Morton. Es gibt zwei Möglichkeiten. Sie können mit uns zur Federal Plaza fahren und sich möglichst schnell um einen Anwalt bemühen..."
"...oder Sie packen aus!", ergänzte Tylo.
"Hey, was wollt ihr mir da anhängen, ihr Schweinehunde!", rief Morton.
"Vorsicht!", riet ich ihm. "Ich nehme an, dass jemand Sie mehr oder weniger freundlich gebeten hat, ihm den Van am nächsten Tag zu überlassen. Vielleicht wurden Sie sogar gezwungen. Sie ahnten, dass das mit irgendeiner illegalen Sache zu tun haben würde und meldeten den Van vorsichtshalber als gestohlen. Nur dummerweise brauchten Sie den Wagen noch einmal, bevor die Typen ihn am nächsten Tag abholten..."
"Sie haben eine blühende Fantasie", knurrte Morton zwischen den Zähnen hindurch. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Muskeln seines breitschultrigen Oberkörpers spannten sich.
"Wem haben Sie den Wagen überlassen?", hakte ich noch einmal nach.
"Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern!"
"Na schön, dann reden wir besser an einem anderen Ort weiter."
Morton atmete schwer. "Nein!", schrie er. Er deutete zur Tür. "Wenn Sie mit mir dort hinausgehen und mich abführen..." Er stockte.
"Was ist dann?" hakte ich nach. "Wem haben Sie den Wagen zur Verfügung gestellt?"
"Ich kann es nicht sagen!"
"Sie müssen!"
"Die bringen mich um!"
Morton