Im Jahr danach veröffentlichte Darwin die Theorie in dem Buch Über die Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung. Einige Forscher reagierten verärgert, weil sie von Lamarcks Konzept der Transmutation abwich, andere beleidigt, weil sie die wörtliche Bibelinterpretation untergraben sahen. Wieder andere meinten, dass sie die große Vielfalt von Merkmalen im Artenreich ignoriere, und nannten sie »führungslos« und »nicht progressiv«.
Darwin war dennoch zuversichtlich. Er wusste, dass Individuen einer Art gewisse natürliche Variationen zeigen: Einige haben längere Haare, kürzere Beine oder hellere Farben. Sie alle konkurrieren um begrenzte Ressourcen und so folgerte Darwin, dass diejenigen, deren Merkmale am besten für die Umwelt geeignet waren, eher überlebten und Nachkommen hätten. Also würden die Merkmale, durch die Individuen länger leben und sich fortpflanzen, an mehr Nachkommen vererbt, während Merkmale, die weniger Erfolg versprechen, verloren gehen. Darwin nannte diesen Vorgang »natürliche Selektion« – durch sie wird eine Population einer Art im Lauf von Generationen immer besser an ihre Umgebung angepasst.
»Ich sehe keinen triftigen Grund, warum die in diesem Buche aufgestellten Ansichten gegen irgendjemandes religiöse Gefühle verstoßen sollten.«
Charles Darwin Die Entstehung der Arten, 1859 (deutsche Ausgabe von 1884)
Sexuelle Selektion
Darwin entwickelte zudem eine Theorie der sexuellen Selektion. Er stellte sie in Entstehung der Arten vor und entwickelte sie in The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871; dt.: Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl, 1875) weiter. Die sexuelle Selektion unterscheidet sich von der natürlichen, denn Darwin erkannte, dass Tiere ihre Partner nach Merkmalen aussuchen, die das Überleben nicht immer fördern. So konnte er sich nicht vorstellen, dass die spektakulären, aber unpraktischen Schwanzschleppen der männlichen Pfauen beim Überleben halfen. Vielmehr erhöhen sie den individuellen Fortpflanzungserfolg. Hennen wählen den Hahn mit dem leuchtendsten Schwanz, sodass dessen Erbmaterial weitergegeben wird. Leuchtende Farben sind ein Zeichen für Gesundheit, sodass es für Hennen eine gute Strategie ist, danach zu schauen. Doch die Idee, dass die Weibchen den Partner wählen, löste Kritik aus: Gesellschaftlich konnte im 19. Jahrhundert zwar akzeptiert werden, dass Männer um die Fortpflanzung konkurrieren (intrasexuelle Selektion), aber über intersexuelle Selektion, bei der ein Geschlecht (meist das weibliche) die Wahl trifft, wurde gelacht.
Der Fortpflanzungserfolg ist für die Zukunft einer Art entscheidend. Natürliche Selektion wird oft als das »Überleben des Bestangepassten« bezeichnet, aber Langlebigkeit alleine ist nicht das Kriterium. Wenn Individuum A zehnmal so lange lebt wie B, aber B doppelt so viele Nachkommen hat, vererbt B mehr Gene als der langlebigere A.
Natürliche Selektion
Pfauen mit prächtigen Schwänzen ziehen die meisten Hennen an. Der leuchtende Schwanz wird als Merkmal an die männlichen Nachfahren vererbt, die ebenfalls leicht Partnerinnen finden.
Erweiterung der Theorie
Viele der Ideen von Darwin und Wallace erwiesen sich als erstaunlich genau, obwohl man die Genetik damals noch nicht verstand. Zwar hatte Darwin selbst mit dem Adjektiv »genetisch« die noch unbekannten Mechanismen der Vererbung bezeichnet, doch erst im frühen 20. Jahrhundert verwendete der britische Biologe William Bateson den Begriff »Genetik« in einer Beschreibung des wissenschaftlichen Vorgangs. 1930 schrieb der Brite Ronald Fisher The Genetical Theory of Natural Selection, das Darwins Theorie der natürlichen Selektion mit den Vererbungsregeln vereinte, die Gregor Mendel im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Im Jahr 1937 meinte der ukrainisch-US-amerikanische Genetiker Theodosius Dobzhansky, dass ständig auftretende genetische Mutationen genügten, um die genetische Diversität – und damit verschiedene Merkmalsausprägungen – hervorzubringen, die natürliche Selektion ermöglichten. Evolution sei die Änderung der Häufigkeit eines »Allels« im Genpool. Der Begriff »Allel« beschreibt eine der alternativen Formen eines Gens, die durch Mutationen auftreten.
»Warum sterben einige und leben andere? … Die Antwort war klar, dass insgesamt die besser angepassten überleben.«
Alfred Russel Wallace Autobiography, 1905
Albinismus wie bei diesem Leopardgecko ist eine Mutation, durch die Pigmente fehlen. Sie verringert die Überlebenschancen dieses Geckos, da er lichtempfindlicher ist.
Eine Mutation ist eine permanente Änderung der Sequenz in der Desoxyribonukleinsäure (DNA), dem Molekül, auf dem Gene codiert sind. Demnach unterscheidet sich die Sequenz des betroffenen Individuums von der der Artgenossen. Mutationen können durch Kopierfehler bei der Zellteilung auftreten, ebenso durch Umweltfaktoren wie Schädigungen durch die ultraviolette Strahlung der Sonne. Manche Mutationen wirken sich nur auf den Organismus selbst aus, andere auf seine Nachkommen und zukünftige Generationen.
Vererbte Mutationen können, müssen aber nicht den Phänotyp des Individuums – seine Körper- und Verhaltensmerkmale – ändern. Beeinflussen sie den Phänotyp, können sie vorteilhaft oder unvorteilhaft sein, also die Überlebens- und Reproduktionschancen verbessern oder verschlechtern. Unvorteilhafte Mutationen verschwinden aus der Population eher wieder; wenn sich durch sie der Organismus besser an die Umwelt anpasst, kommen sie im Lauf von Generationen häufiger vor. Mit der Zeit kann die Abweichung von der Elternpopulation so groß sein, dass eine neue Art entsteht; dies nennt man Artbildung oder Speziation.
»Die überwiegende Mehrheit großer Mutationen ist schädlich; kleine Mutationen sind sowohl häufiger als auch mit größerer Wahrscheinlichkeit nützlich.«
Ronald Fisher The Genetical Theory of Natural Selection, 1930
Die Mutationsraten sind in der Regel sehr gering, Mutationen treten aber ständig auf und können vorteilhaft, neutral oder nachteilig sein. Sie ergeben sich nicht aus den Bedürfnissen des Organismus und sind in diesem Sinne zufällig. Doch einige Typen gibt es häufiger als andere. Heute wissen wir etwa, dass die Evolution bei Bakterien sehr schnell ablaufen kann, da bei ihnen Mutationen oft vorkommen.
Evolutionsraten
Die Vorfahren aller Lebewesen waren sehr einfache Organismen. Nach aktuellen Forschungen sind die ältesten biogenen (auf Lebewesen zurückgehenden) Gesteine fast 4 Mrd. Jahre alt, seither sind hochkomplexe Lebewesen entstanden. Spätere Fossilien, die heutigen Arten ähnlicher sind, zeigen, wie das abgelaufen ist. So reicht die Fossilüberlieferung zu den Vorfahren des Pferdes 60 Mio. Jahre zurück, die frühesten Funde lassen auf hundegroße, waldbewohnende Tiere mit mehreren Zehen an jedem Fuß schließen. Die Evolution machte daraus viel größere Pferde mit einem einzigen Huf an jedem Fuß, die gut an die offenen Grasländer angepasst waren, wo sie oft vor Räubern fliehen mussten.
»Im Licht der Evolution betrachtet, ist die Biologie vielleicht die intellektuell befriedigendste und inspirierendste Wissenschaft.«
Theodosius Dobzhansky »Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution«, in: The American Biology Teacher, März 1973
Der Birkenspanner (Biston betularia) zeigt dagegen radikale Veränderungen in kurzer Zeit. Diese Motte ist gewöhnlich hell, sodass sie auf der Rinde von Birken gut getarnt ist, doch eine Mutation brachte auch einzelne schwarze Exemplare hervor.