Beautiful Things. Hunter Biden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hunter Biden
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783455011890
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er, würden wir zusammen eine Anwaltskanzlei gründen und uns gemeinsam nur für »schöne Dinge« einsetzen. Wir würden auf der Veranda unseres elterlichen Hauses in Schaukelstühlen sitzen und die »schönen Dinge« betrachten, die vor uns lägen. Wir würden in den »schönen Dingen« schwelgen, die unsere Kinder und Familien würden, mit jedem Schritt mehr.

      Es war unser Geheimcode für das neue Lebensgefühl. Wir wollten nie wieder zulassen, dass wir zu müde würden, zu abgelenkt, zu zynisch. Wir wollten uns nicht mehr vom Weg abbringen lassen durch das, was uns das Leben vor die Füße warf, wir wollten schauen und sehen und lieben.

      »Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«

      Ein einziges Erinnerungsbild blitzt auf aus dem ersten und folgenschwersten Augenblick meines Lebens. Ich bin mir nicht sicher, in welchem Maß dieses Bild aus Zeitungsberichten, die ich gelesen habe, und den Geschichten, die wir uns in der Familie über die Jahre erzählt haben, zusammengesetzt ist, und wie viel davon die tatsächliche, verdrängte Wirklichkeit ist, die sich nun wieder bemerkbar macht.

      Aber es ist ein lebhaftes Bild.

      Es ist der 18. Dezember 1972. Mein Vater hat gerade den Wahlkampf um den zweiten Senatssitz von Delaware gewonnen. Er ist drei Wochen nach der Wahl dreißig geworden, erst beim Amtseid im Januar wird er das Mindestalter für Senatoren erreicht haben. Er ist an diesem Tag in Washington, D.C., wo er die Bewerbungsgespräche für seinen neuen Mitarbeiterstab führt. Meine Mutter Neilia – wunderschön, hochintelligent und ebenfalls dreißig – hat mich, meinen Bruder Beau und unsere kleine Schwester Naomi mitgenommen, um in der Nähe unseres renovierungsbedürftigen Hauses in Delaware einen Weihnachtsbaum zu kaufen.

      Beau wird bald vier. Ich werde bald drei. Ich bin ein Jahr und einen Tag später geboren als er – wir sind beinahe irische Zwillinge.

      Vor meinem geistigen Auge passiert jetzt Folgendes:

      Ich sitze auf dem Rücksitz unseres geräumigen weißen Chevy-Kombi, hinter meiner Mutter. Beau ist auch da, hinter Naomi, die wir beide Caspy nennen – ein blasses, pummeliges Baby, das dreizehn Monate zuvor wie aus dem Nichts in unserer Familie aufgetaucht ist, weshalb ihr Spitzname von einer unserer Lieblingscomicfiguren abgeleitet ist: Casper, das freundliche Gespenst. Sie schläft tief und fest in einem Babykorb auf dem Vordersitz.

      Plötzlich sehe ich, wie sich der Kopf meiner Mutter nach rechts dreht, ich sehe ihr Profil, aber ich erinnere mich weder an den Blick noch an den Gesichtsausdruck. Ihr Kopf schwingt einfach herum. Im selben Moment stürzt oder schleudert mein Bruder auf mich zu.

      Das ist alles. Es geht schnell, wie ein Zucken, ein chaotischer Augenblick: Meine Mutter ist langsam auf eine Kreuzung gefahren, ein mit Maiskolben beladener Lastwagen hat uns seitlich getroffen.

      Meine Mutter und meine kleine Schwester waren auf der Stelle tot. Beau wurde mit einem gebrochenen Bein und zahllosen weiteren Verletzungen aus dem Autowrack gezogen. Ich erlitt einen schweren Schädelbruch.

      Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Krankenhaus aufwachte. Beau lag im Bett neben mir, verbunden und geschient, er sah aus, als wäre er auf einem Spielplatz verprügelt worden. Er flüstert immer wieder dieselben drei Wörter in meine Richtung:

      »Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«

      So fing alles an. Beau wurde mit diesen ersten bewussten Momenten meines Lebens mein bester Freund, mein Seelenverwandter, der Stern, der mich führt.

      Drei Wochen später wurde Dad in unserem Krankenhauszimmer vereidigt, er war jetzt Senator.

      Beau hatte zwei Amtszeiten lang als Generalstaatsanwalt von Delaware gedient, er war der Vater einer kleinen Tochter und eines Sohns, als ihm die Ärzte die Diagnose überbrachten: Glioblastoma multiforme – ein Hirntumor.

      Vermutlich breitete sich der Tumor bereits seit drei Jahren in seinem Kopf aus. Im Herbst 2010, etwa ein Jahr nachdem er von einem Einsatz im Irak zurückgekehrt war, hatte er über Kopfschmerzen geklagt, Taubheitsgefühle, Lähmungserscheinungen. Damals hatten die Ärzte seine Symptome auf einen Schlaganfall zurückgeführt.

      Wir beobachteten seine Entwicklung danach sehr genau. Etwas schien nicht in Ordnung. Beau scherzte Freunden gegenüber, dass er plötzlich Musik hörte. Ich fand das nicht witzig – eher unheimlich. Er wusste einfach nicht, was los war, aber aus heutiger Sicht bin ich mir sicher, dass es der Tumor war, der auf einen Teil seines Gehirns drückte und dort akustische Halluzinationen auslöste – eine Geschwulst, die eine Nervenzelle anstößt, die eine weitere anstößt, bis man plötzlich im Hintergrund Johnny Cash hört. Das war es, was Beau erlebte.

      Schließlich, an einem warmen Spätnachmittag im August 2013, sah ich entsetzt mit an, wie Beau in einem Kleinstadtkrankenhaus in Michigan City, Indiana, einen Grand-mal-Anfall erlitt. Dieser Anfall bestätigte, dass bösere Mächte im Spiel waren. Am Tag zuvor war Beau mit seiner Frau und seinen Kindern elf Stunden von Delaware gefahren, wie jedes Jahr, um mit uns am Lake Michigan, ganz in der Nähe des Ortes, an dem meine damalige Frau Kathleen aufgewachsen war, Urlaub zu machen. Ich selbst war nach einem Wochenende im Reservedienst der U.S. Navy aus Norfolk, Virginia, gekommen und zog mich gerade um – wir wollten bei den Verwandten vorbeisehen, die im Haus von Kathleens Cousine, nur wenige Schritte von unserem Sommerhaus entfernt, versammelt waren –, als ich sah, dass Beau mit unseren Familien die Einfahrt hinaufkam. Alle um ihn herum waren panisch.

      Beau behauptete, es gehe ihm gut. Doch es war offensichtlich, dass er kämpfte, er ging gebeugt, mit unsicheren Schritten. Wir fuhren ihn zum Krankenhaus, wo die Radiologieassistenten gerade ein MRT vorbereiteten, als er den Anfall hatte. Es war grausam, wie eine Szene aus dem Film Der Exorzist. Die Gewalt in seinem Körper brach in Zuckungen und Konvulsionen aus ihm heraus, man konnte den Sturm, der in seinem Gehirn wütete, förmlich sehen. Es schien überhaupt nicht mehr aufzuhören. Ich fühlte mich machtlos. Ich wollte den Schmerz meines Bruders in mich aufnehmen, um ihm zu helfen, aber ich konnte nichts tun.

      Nichts.

      Als sich der Sturm schließlich legte, wurde Beau per Hubschrauber ins Northwestern Memorial Hospital in Chicago überführt. Seine Frau Hallie und ich folgten im Auto, wir rasten und schafften die Strecke in der Hälfte der üblichen siebzig Minuten. Beau hatte bereits sein MRT bekommen, als wir ankamen. Die Ärzte zeigten uns die Bilder.

      Ich war erleichtert. Ich hatte seit Beaus Schlaganfall so viele MRT-Bilder angesehen, dass ich genau zu wissen glaubte, was los war.

      »Das ist ja nur der Infarkt«, sagte ich und zeigte auf die Region des Gehirns, die durch den Schlaganfall beschädigt war. Auf der Stelle lag ein trüber Schatten.

      Der Chirurg, einer der besten des Landes, seufzte mitleidig.

      »Hunter«, sagte er ernst, »ich glaube, es ist ein Tumor.«

      »Auf gar keinen Fall«, sagte ich. »Das sieht genauso … Ich sehe mir diese Bilder doch seit einem Jahr an. Das ist genau die Stelle, an der der Schlaganfall passiert ist – genau da.«

      »Also, dazu kann ich nichts sagen«, meinte der Chirurg. »Aber das hier sieht wie ein Tumor aus.«

      Wir flogen Beau nach Hause und brachten ihn ins Thomas Jefferson University Hospital in der Nähe von Philadelphia. Die Diagnose wurde bestätigt, es war ein Tumor.

      Einige Tage später stieg ich mit Beau noch einmal in ein Flugzeug, diesmal mit dem Ziel Houston, wo wir einen Hirnchirurgen treffen sollten, der am MD-Anderson-Krebsforschungsinstitut der University of Texas arbeitete.

      Ein Glioblastom ist ein gemeines, unerbittliches Grauen. Die erste Operation sei erfolgreich verlaufen, erklärten die Ärzte Beau, sie hätten den Teil des Tumors entfernt, den sie sehen konnten. Zugleich sei aber der Krebs von der aggressivsten Art – eine gefährlichere gebe es nicht. Niemand war bereit, Beau die Zahlen – seine Überlebenschancen – zu nennen, doch als nur noch Dad, der Arzt und ich im Raum waren, fragte ich danach. Später sah ich im Internet nach, um auszuschließen, dass der Arzt uns eine falsche Überlebensrate genannt hatte: unter ein Prozent. Patienten leben nach der Diagnose im Schnitt noch etwa vierzehn bis achtzehn