Doch das im wahrsten Sinne des Wortes größte Strandgemälde aller Zeiten stammt von Hendrik Willem Mesdag. Vierzehn Meter hoch und hundertzwanzig Meter breit, kann man sich davon regelrecht umhüllen lassen, hat es doch die Form eines – im 19. Jahrhundert besonders populären – Panoramas. Zu finden ist es in der Den Haager Zeestraat. Einst Ausfallstraße zum Meer, liegt sie heute mitten in der Stadt, und eine schmale Holztreppe führt im Rondell des Panorama Mesdag hinauf auf die kleine Plattform, die einem Strandpavillon auf einer hohen Düne nachgebildet ist. Um den Pavillon herum ist echter Sand aufgeschüttet, Büschel unechten Sandhafers ragen heraus, hier und da liegt angespültes Strandgut herum, alte Kisten und Taue. Mit ein bisschen Fantasie und leicht zusammengekniffenen Augen bekommt man so tatsächlich das Gefühl, sich im Scheveningen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu befinden. An einem sommerlichen Strand wartet ein Dutzend Fischerboote auf die Flut, im Wasser liegen immer noch und immer wieder boomschuiten, die Kavallerie ist zu einer Übung angerückt. Eine Fischersfrau schaut einer malenden Dame über die Schulter, die sich mit einem weißen Schirm vor der Sonne schützt und in der Hendrik Willem Mesdag seine Frau Sientje verewigt haben soll.
Als das Panorama am 1. August 1881 eröffnet wird, ist unter den Besuchern ein junger Mann, dessen Ruhm den von Mesdag und aller anderen Maler von Scheveningen eines Tages noch einmal überstrahlen wird: Vincent van Gogh. Der berichtet seinem Bruder Theo in einem Brief: »Dann habe ich mit ihm [Theóphile de Bock] zusammen das Panorama von Mesdag gesehen, ein Werk vor dem man allen Respekt haben muss. Ich dachte dabei an einen Satz, ich glaube von Bürger oder Thoré, über die Leçon d’anatomie von Rembrandt: Le seul défaut de ce tableau est de ne pas avoir de défaut.« Der einzige Fehler dieses Werkes ist, dass es keinen Fehler aufweist – ein Satz, der Vincent van Gogh möglicherweise Ansporn ist, denn nur ein Jahr später steht er selbst malend am Meer. Strand van Scheveningen bij kalm weer misst gerade 35,5 mal 49,5 Zentimeter und zeigt drei vertäute Boote, vor denen vier Menschen stehen, links zwei Frauen mit weißen Kopftüchern, rechts zwei Männer. Es ist Ebbe, die grau-gelben Farben des Strandes gehen in die Farben des Meeres über, die wiederum in die Farben des Himmels. 1882 ist Vincent van Gogh neunundzwanzig Jahre alt und wird noch acht Jahre leben, in denen all seine Meisterwerke entstehen. Gerade ist er wieder zu seinen Eltern nach Etten in Brabant gezogen, aber in Den Haag wohnt seine Cousine Ariëtte (Jet) Carbentus, deren Mann Anton Mauve ebenfalls Maler ist, van Gogh ermutigt und ihm Unterricht gibt. Am 19. August 1882 schreibt van Gogh an seinen Bruder, wie er Wind, Sturm und Regen beobachtet. Auch mit Worten kann der Mann, der als Maler alle Vorstellungen seiner Zeit sprengt, die aufgewühlte See präzise erfassen. »Es war doch so schön in Scheveningen dieser Tage. Das Meer war vor dem Sturm selbst noch imposanter als in dem Moment, als es tatsächlich stürmte. Während des Sturmes sah man die Wellen viel weniger und gab es weniger den Effekt von Furchen in einem gepflügten Feld. Die Wellen folgten einander so schnell, dass die eine die andere verdrängte und durch den Aufprall der Wassermassen eine Art flugsandiger Schaum entstand, der die ersten Meter des Meeres in eine Art Dunst hüllte. Aber ansonsten war es ein tobendes Stürmchen, um so tobender und, wenn man länger zusah, um so eindrucksvoller, weil es so wenig Lärm machte. Das Meer hatte die Farbe von schmutzigem Seifenwasser. Da war an der Stelle eine kleine Pinke, die letzte in einer Reihe, die einzige dunkle Gestalt.« Vincent van Gogh ist davon überzeugt, dass die Kunst, die Malerei, weit über das Gesagte hinausgeht. »Im Malen ist etwas Unendliches, ich kann es Ihnen nicht so gut erklären, aber gerade für den Ausdruck von Stimmungen ist es herrlich.«
Fast dreihundert Jahre liegen zwischen dem rasenden Segelwagen von Simon Stevin und diesen Zeilen von Vincent van Gogh. Ob die beiden Männer sich wohl etwas zu sagen hätten, würden sie einander in einem zeitlosen Raum begegnen? Könnten sie einander erklären, was sie sehen, was sie empfinden, am Strand von Scheveningen? Wo der Sturm, der die Segel von Simon Stevins futuristischem Wagen antreibt und Vincent van Gogh den Sand auf die Leinwand bläst, Anfang des 17. Jahrhunderts aus derselben Richtung weht wie Ende des 19. Jahrhunderts und auch der Blick zum Horizont der gleiche ist. Doch so sehr haben sich die Weltbilder in den drei Jahrhunderten verändert, haben die globalen Eroberungen, die Revolutionen und Kriege, die Erfindungen und Entdeckungen die Wahrnehmung der Menschen verschoben, dass Simon Stevin und Vincent van Gogh einander sehr fremd sein müssten, noch dazu wo der eine Wissenschaftler, der andere Künstler ist. Was gibt es hier zu fühlen, würde der eine vielleicht fragen. Was gibt es hier zu rasen, würde der andere sich vielleicht wundern, bevor sie wieder ihrer Wege gehen. Simon Stevin, in Gedanken schon beim nächsten Experiment, fährt zurück in die Stadt, wo sein Studierzimmer wartet. Vincent van Gogh, nach neuen Motiven Ausschau haltend, rückt seine Leinwand noch etwas näher ans Meer.
Im Scheveningen von heute ist es mittlerweile Abend geworden, die Dämmerung hat eingesetzt und hüllt die modernen Hochbauten links und rechts vom Kurhaus in gnädiges Licht. Von den religiösen Gefühlen, die das Meer und seine Ufer bei unseren Ahnen auslösten, zeugt nur mehr ein unscheinbares Büdchen auf der Strandpromenade. In mehreren Sprachen wirbt es für die Bibel und bietet allerlei erbauliche Heftchen an, für die sich kaum jemand interessiert. Der Gedanke, dass eine Sintflut nahen könnte, um uns für unsere Sünden zu strafen, scheint niemanden mehr recht zu beeindrucken. Meeresungeheuer landen frisch gegrillt und in mundgerechten Portionen auf dem Tisch, dazu ein kaltes Glas Weißwein und Elektrobeats. Der Strand hat sich geleert, auch der kleine Junge mit der blauen Badehose ist längst nicht mehr da. Trotzdem will es mir nicht aus dem Kopf gehen, wie er dort im Sand saß. Ich suche die Stelle, aber Wind und Wasser haben ihre Pflicht getan und den Strand ordentlich aufgeräumt. Erst viel später, ich bin nur noch in Gedanken am Strand von Scheveningen, fällt mir ein Gedicht von Ida Gerhardt in die Hände, der Grande Dame der niederländischen Dichtung. Een naam in schelpen (Ein Name in Muscheln) muss sie gerade für solch einen kleinen Jungen geschrieben haben, beginnt es doch in tiefer Achtung für ein Kind, das unverletzbar nach dem Meer verlangt, ohne es die anderen merken zu lassen.
Mijn diepste eerbied geldt een kind
dat onaanrandbaar naar de zee
verlangt, en het niet merken laat
aan anderen.
Der Tag vergeht, das Kind baut eine Sandburg. Erst als die Sonne fort und der Tag um ist, bricht es endlich auf, lässt seine Bastion zurück, auf die es mit Muscheln seinen Namen gelegt hat. Die Schaufel in der Hand, geht es schweren Schrittes hafenwärts.
En het vermant zich, en verlaat
zijn burcht aan zee, het bastion
waarop zijn naam in schelpen staat,
en dat – hij weet het – nog vannacht
als het tij opzet wordt geslecht.
Het neemt zijn schop op en het gaat
op stroeve voeten havenwaarts.
Ach Kind, denke ich, nimm es dir doch nicht zu sehr zu Herzen. Du kannst morgen wiederkommen, du kannst neue Sandburgen bauen. Und wenn du größer bist, fahren wir zusammen nach England hinüber.
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