Und ach daß Jeverland auch solche Noht erlebet!
Ach daß der Wellen Macht durch unsre Dämme bricht!
Wovon das ganze Land mit großer Furcht erbebet.
Ach daß ein stummer Feind durch unser Herze sticht!
Die Wohlfahrt ist dahin, verborgen alle Wonne!
Man siehet nun nicht mehr die helle Glückes-Sonne!
Doch so tief der Schmerz bei Ummen auch sitzt, es gibt Hoffnung, Trost und einen Hinweis darauf, wie man sich mit dem Feind aussöhnen könnte. Nur vier Jahre nach der verheerenden Weihnachtsflut erscheint der erste Teil von Barthold Heinrich Brockes’ mehr als 5500 Seiten umfassender Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, einem Mammutwerk, einer groß angelegten Mission der Erweiterung des, um mit Jean-Didier Urbain zu sprechen, menschlichen Gefühlspektrums gegenüber dem christlichen Schöpfer. Denn der, so die Idee, begegnet uns eben nicht nur in Sturmfluten, sondern in allen natürlichen Dingen, weshalb wir ihm nicht ängstlich, sondern ehrfurchtsvoll entgegentreten dürfen und sollen. Allein das Gedicht Gottes Größe in den Wassern klingt bereits viel freundlicher und optimistischer als die Zeilen des leidgeplagten Conrad Joachim Ummen.
Ach Gott! unendlichs All, Du Brunnquell aller Dinge,
Gib, daß ich noch einmahl, was Dir gefällig, singe
Vom feuchten Element! Es sey, o Gott, das Meer
Ein Spiegel abermahl von Deiner Größ’ und Ehr!
Es folgen unzählige Verse, die das Meer zunächst auch als Ort des Grauens voller »Wunder-Thier’« und »Wallfisch-Heere« beschreiben. Doch ein paar Gedichte später hält der kluge Dichter inne und fragt sich, ob da nicht doch ein Wesen wäre, das größer und mächtiger als jedes Meeresungeheuer ist, das uns nicht nur des Meeres Brausen, Heulen, Brüllen beschert, sondern eben auch seinen spiegelglatten, im Sonnenlicht ruhenden Glanz. Ein Glanz, der sich auf das Davor des Meeres überträgt, wo Brockes endlich auch am Strand göttliche Spuren entdeckt.
Die Sandes-Körner selbst und Theilchen unsrer Erden,
Sind ebenfalls ja wirklich Creaturen,
Worinn, wenn wir den Geist mit unserm Blick verbinden,
Wir mancherley Vergnügen finden, (…)
Es kommet jeder Sand-Korn mir
Als wie ein kleines Glied
Der allgemeinen Mutter für.
Nun, so mag sich manch Küstenbewohner bald denken, wenn der liebe Gott sich auch in einem Sandkorn findet, warum soll ich mich dann nicht an den Strand wagen und einmal ein paar der abermillionen Körnchen durch meine Finger rieseln lassen? Der Junge mit der blauen Badehose, der in Scheveningen am Strand sitzt, ahnt in seiner Unschuld gar nicht, welche historische Errungenschaft seine kleine Geste bedeutet und welche geistigen Anstrengungen seiner Vorfahren es brauchte, um sie ihn überhaupt ausführen zu lassen.
Als ich vom Dorf Scheveningen zurückkehre, ist das Kind tatsächlich noch da. Seine Mutter hat sich zu ihm gesetzt. Sie schickt den Jungen mit einem Becher zum Meer, um Wasser zu holen, damit sie seine kleinen Hügel in eine Sandburg verwandeln können. Vorsichtig formen sie die Festungsmauern, zeichnen Fenster hinein und heben den Burggraben aus.
Ich dagegen breite unweit von ihnen mein Handtuch aus und frage mich, wie viele Gemälde holländischer Meister man wohl betrachtet haben muss, bevor man selbst so weit ist, sich frisch und frei den meteorologischen Erscheinungen auszusetzen? Die Niederländer sind fraglos frühe Vögel, doch nach und nach beginnen auch Menschen aus meeresferneren Gebieten ihrer eigenen Anschauung zu vertrauen und sich ihres Verstandes zu bedienen, wie es Immanuel Kant als Leitmotiv der Aufklärung ausgibt. Ein Mann, der die Anschauung zu seinem Lebensprinzip erklärt hat, ist Georg Forster. Er kommt nach Scheveningen bereits einige Jahre bevor es offiziell zum Seebad erklärt wird, übrigens begleitet von einem jungen Mann namens Alexander von Humboldt. Statt der fernen Länder, die sie schon bereisten und noch bereisen werden, wollen die Herren die Auswirkungen der Französischen Revolution auf den Heimatkontinent besichtigen. Von Mainz, wo Georg Forster zu diesem Zeitpunkt lebt, geht es über Lille und Antwerpen nach Den Haag, das, so zitiert der Autor ein populäres zeitgenössisches Bild, »schönste Dorf Europas«. Entlang einer »schönen schnurgeraden Allee von großen schattigen Linden und Eichen« fährt Forster auch ans Meer, wo es vor allem die Ruhe ist, die ihm augenfällig wird und die er bereits von den Bildern der holländischen Meister kennen könnte. Und obwohl der Naturkundler Forster am Strand von Scheveningen nichts findet, was ihm wert wäre aufzuheben, erfasst er mit geschultem Blick sofort die geologischen und botanischen Gegebenheiten: »Das Meer, welches in Holland überhaupt nichts mehr ansetzt, hat im Gegentheil hier einen Theil vom Strande weggenommen, und die Kirche, die sonst mitten im Dorfe lag, liegt itzt außerhalb desselben unweit des Meeres. Die vier Reihen von Dünen, etwa eine halbe Viertelmeile weit hinter einander, die man hier deutlich bemerkt, unterscheiden sich durch verschiedene Grade der Vegetation, welche sich in dem Maaße ihrer Entfernung vom Meere und des verringerten Einflusses der Seeluft vermehrt.« Nachzulesen sind diese Zeilen in den Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790, das zehn Jahre später auch auf Französisch erscheint, was sein Autor allerdings nicht mehr erlebt. Sechs Jahre zuvor ist Georg Forster im revolutionären Paris einer Lungenentzündung erlegen. Aber vielleicht fühlen sich seine französischen Leser ja von der Lektüre inspiriert, ihr Gefühlsspektrum dem Strand gegenüber zu überdenken, das sich zwischen zögerlich bis verweigernd zu bewegen scheint, obwohl sie in drei Himmelsrichtungen über unendliche Kilometer eigenen Strand verfügen. Doch anders als in den Niederlanden ist das französische Festland offensichtlich groß genug, um die Meeressäume ein Leben lang zu meiden. Wer einen weiten Blick sucht, könnte ebenso einen der zahlreichen Hügel und Berge besteigen, wo man zumindest festen Boden unter den Füßen hat. Warum sich die Franzosen von den Gestaden lieber fernhalten, erklärt sich der französische Historiker Alain Corbin in seinem Prachtband Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste so: »Das Gefühl der hier entstandenen Übereinstimmung zwischen Gott und dem Menschen genügt nicht, um den Gedanken an eine dauernde Bedrohung durch das Wasser aus dem Bewußtsein zu vertreiben. Insbesondere die Franzosen, die wenig Verständnis für die technischen Fertigkeiten der Holländer und die in Kauf genommenen Risiken zeigen, fürchten sich oft schon bei der bloßen Vorstellung, auf diesem ›Überschwemmungsboden‹ zu verweilen.« Regelrecht erstaunt nimmt man in Frankreich zur Kenntnis, dass man auf solch labilem Grund durchaus nicht die Ruhe verlieren muss. So steht zum Beispiel Denis Diderot, als er in den Jahren 1773 und 1774 die Niederlande erkundet, in Scheveningen tatsächlich das erste Mal in seinem Leben am Meer und schreibt darüber in seinem Bericht Voyage en Hollande: »Scheveningen war zu allen Jahreszeiten der Ort, an dem ich am liebsten spazieren ging.« Ihn rühren vor allem die Fischer und deren Frauen, von denen er annimmt, ihre Liebe sei »so rein wie zu Zeiten Evas«, allein weil sie einander so herzlich umarmen, sobald die Boote an Land gezogen sind. Mehr noch aber ist Diderot von der republikanischen Wirklichkeit Hollands angetan, von Religionsfreiheit und Handelsgeist, so sehr, dass für ihn selbst die meisterhafteste Malerei nicht mithalten kann. »Sollte der Handelsgeist diese fantastischen Künstler in ihrer Entwicklung behindert haben? Wie talentiert sie auch sein mögen, ihre Gemälde zeugen selten von einem Sinn für Geschmack, erhabenen Ideen oder Originalität.«
Die Niederländer beeindruckt solche Mäkelei kaum, sie hofieren ihre Meister, die Künstler wie die Ingenieure, die hunderte Quadratkilometer Überschwemmungsboden trockenlegen, das Meer zähmen und ihm mehr und mehr Land abtrotzen. Gemäß der Devise »Gott schuf die Erde, aber die Niederländer schufen die Niederlande« lassen sie sich den Schlaf höchstens von brechenden Deichen rauben und erkennen die göttliche Grenzziehung zwischen menschenfreundlichem Festland und menschenfeindlichem Meer schlicht nicht an, wie